Lebenslust trotz Tumor

3. September 2020

Als bei Jeanne ein Tumor entdeckt wird, hätte sie sich gewünscht, dass ihr Mann sie in den Arm nimmt. Doch die erhoffte Zuwendung bleibt aus und die Buchhändlerin zieht ihre Konsequenz. Sie verlässt ihren Mann, und findet in der WG von zwei krebskranken Frauen Zuflucht. Erstaunt beobachtet Jeanne die eigenen Veränderungen, die neue Aggressivität.

Schwestern im Krebs

Ihre„Schwestern im Krebs“ geben ihr Halt, zeigt ihr, dass es trotz allem ein Leben gibt: „Ich war verblüfft. Frauen mit Krebs, die das Leben besangen. Weil sie keine Zeit mehr zu verlieren hatten.“ Sorj Chalandon hat sich erstaunlich gut hineingefühlt in seine Protagonistin, schonungslos beschreibt er die körperlichen und seelischen Veränderungen, die Jeanne durch ihre Krebsbehandlung erleidet. Auch dass sie gerade deshalb wilde Freude – so auch der Titel des Romans – empfinden kann: „Mein Körper war erschöpft, aber ich sog das Leben in mich ein.“

Vier Frauen und ein Überfall

Diese neue Lebenslust hat sich auch der unerschütterlichen Brigitte zu verdanken, die Jeanne in ihre WG eingeladen hat, obwohl ihre Lebensgefährtin Assia dagegen war. Und dann kommt noch die zerbrechlich wirkende Melody dazu, die nicht nur in Brigitte mütterliche Gefühle weckt. Ihretwegen lassen sich Jeanne, Brigitte und Assia auf einen gewagten Überfall ein, nur um zu spät zu begreifen, dass sie getäuscht wurden.

Ein Verrat ohne Folgen

Doch was tut Melodys Verrat noch zur Sache? Die Strategie der Frauen war erfolgreich. Sie haben zusammen gehalten und gewonnen. Das ist die Hauptsache. Dass ihre Tat kriminell war. Geschenkt! Sorj Chalandon sorgt dafür, dass die Leser nie ihre Sympathie für Jeanne verlieren, ja, dass sie mit ihr lachen und weinen können. Großartig!

Hineingelesen…

… in Jeannes Gedankenwelt

Und ich löschte meine Leselampe. Verzichtete auf das Licht. Trat in die Finsternis ein. Ich atmete nicht mehr, ich weinte. Auf dem Rücken liegend, presste ich mir das Kopfkissen aufs Gesicht. Erstickte meine Verzweiflung. Hielt Jahre des Kummers gefangen…. All diese nie gesagten Worte, all diese verschluckten Schreie, all diese nie vergossenen Tränen. Ich verlor die Kontrolle. Das war nicht meine Entscheidung. Mein Körper lehnte sich auf. Japste wie ein kleines Tier. Es gelang mir nicht mehr, Atem zu holen. Die Luft verweigerte sich. Und dann kam ich nieder. Ich wusste nicht, was es war, aber etwas kam aus meinem Bauch, meinem Herzen, Meinem Leben. Ich hatte mich zu oft belogen. Jeanne ging es doch immer gut, Jeanne war so gut wie nie krank. Jeanne ging zur Chemo wie an den Strand, Jeanne verschwieg ihre Kopfschmerzen und ihre verletzte Seele. Jeanne hatte einen Tumor in der Brust. Aber stets alle beruhigt. Jeanne, die sich auf den Kopf zusagen ließ, dass dieser widerlich aussah. Und dass sie lieber zwei Mal pro Tag duschen sollte, um den Aasgeruch zu vertreiben…Die tapfere, die unverzagte Jeanne, die alles so gut wegsteckte, dass ihr nie jemand die Hand hielt. Jeanne, die sich nie beklagte und nie die Stimme erhob. Jeanne mit dem geraden, aufrechten, stolzen Gang. Man rief sie zu Hilfe und schaute ihr vom Ufer aus beim Ertrinken zu.

Info: Sorj Chalandon. Wilde Freude, dtv, 288 S., 22 Euro

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert