Baldwins schwarze Familiengeschichte

2. Mai 2018

James Baldwins „Von dieser Welt“ ist eine Familiengeschichte, die für viele andere in den 1930er Jahren stehen könnte. Der schwarze Schriftsteller, der als einer der wichtigsten amerikanischen Autoren des 20. Jahrhundert gilt, erzählt in dem halb-autobiographischen Roman die Geschichte des jungen John Grimes, der in die Fußstapfen seines Stiefvaters Gabriel als Laienprediger treten soll.

Erweckungserlebnis in der Hinterzimmerkirche 

Baldwin bettet diese Geschichte in die Gebetsversammlung in einer Hinterzimmerkirche in Harlem ein, wo der 14-jährige John sein Erweckungserlebnis erfahren soll. Zwischen dem Beginn der Andacht und Johns Kniefall schildert Baldwin in drei Kapiteln das Leben von Johns Stiefvater, seiner Tante Florence und seiner Mutter.

Keine Zeit für den pubertierenden Sohn 

Der Stiefvater ist ein eifernder Laienprediger, der als Fabrikarbeiter kaum seine Familie ernähren kann und von Schuldgefühlen geplagt wird, weil er seinen außerehelichen Sohn im Stich gelassen hat. Vor seiner eigenen „Erweckung“ hat Gabriel selbst keine Sünde ausgelassen. Umso strenger maßregelt er seinen Stiefsohn, diesen unsicheren kleinen Kerl, der lieber liest als sich mit Gleichaltrigen prügelt. Die Mutter ist mit dem fünften Kind schwanger und hat weder Zeit noch Geduld für die Sorgen ihres pubertierenden Sohnes, die Frucht ihrer großen Liebe. Und die Tante hat sich zwar von ihrer Familie und der Kirche emanzipiert, aber ihrem Leben scheint der Sinn abhanden gekommen zu sein.

Eine Welt voller Rassenhass 

Baldwin Stil erinnert an die ekstatischen Erweckungsversammlungen in evangelikalen Kirchen. Die Leser werden buchstäblich hineingesogen in die Litanei der Versammlung. Der zweite Schwerpunkt des Romans ist die rassistische Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts, eine Welt voller Rassenhass, den auch schon Gabriel zu spüren bekam: „Jetzt spuckte jemand zu Gabriels Füßen auf den Gehsteig, er ging weiter mit unbewegter Miene und hörte es hinter sich vorwurfsvoll flüstern, er seit ein guter Nigger, bestimmt nicht auf Radau aus. Er hofft, das man ihn nicht ansprach, dass er in keines der vertrauten weißen Gesichter lächeln musste.“

Der Roman ist so aktuell wie vor 65 Jahren 

Anders als Gabriel wird Johns leiblicher Vater Richard ein Opfer von Rassenhass. Nachdem eine Gruppe schwarzer Jugendlicher einen Überfall verübt hatte, wird Richard mit verhaftet – weil er schwarz ist. Seine Geliebte, die sich auf der Wache nach ihm erkundigt, wird gedemütigt, er selbst geschlagen. Richard überlebt diese Erniedrigung nicht. Wer denkt da nicht an all die Berichte von Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA? 65 Jahre alt ist dieser außergewöhnliche Roman und heute aktuell wie damals – auch dank der gelungenen Neuübersetzung von Miriam Mandelkow.
Info: James Baldwin. Von dieser Welt, dtv, 316 S., 22 Euro

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