Brunetti: Jubiläum in Melancholie

17. Juni 2021

Es gilt mal wieder ein Jubiläum zu feiern: Donna Leons Commissario Brunetti löst seinen 30. Fall. „Flüchtiges Begehren“ ist der Titel des neuen Romans, in dem Brunetti die Leser wieder mitnimmt auf seine Streifzüge durch Venedig.

Unschönes in Venedig

Mehr als sonst ist der Commissario von Melancholie geplagt. Vielleicht weil er es mit zwei jungen Männern zu tun hat, die ihn an seinen Sohn erinnern. Vielleicht aber auch, weil er all der Missetaten und unschönen Entwicklungen überdrüssig ist, die ihm in seinen langen Dienstjahren begegneten und die ihm das Leben in Venedig verleiden: Massentourismus und Umweltverschmutzung, korrupte Politiker und mafiöse Strukturen.

Vieles scheint auserzählt

Nicht einmal die geliebte Familie kann den Commissario so recht aufheitern. Und der schönen und smarten Signorina Elettra gönnt er kaum einen Blick. Wie die Familie gehört sie zum lieb gewonnenen Personal der Romane. Vieles scheint auserzählt in dieser Folge wie die Launen des dumm-arroganten Vorgesetzten Patta oder auch die Kochkünste der intelligenten Ehefrau Paolo.

Griffoni und die Frauen-Power

Dass Donna Leon mit der schönen Neapolitanerin Claudia Griffoni eine neue Figur eingeführt hat, spricht allerdings gegen die Annahme, die Amerikanerin könnte ihre erfolgreiche Krimi-Serie beenden. In diesem Fall, in dem es anfangs nur um einen schrecklichen Unfall und zwei leichtsinnige junge Männer zu gehen scheint, spielt sie neben dem amtsmüden Brunetti eine wichtige Rolle. Mit Frauen-Power sorgt sie dafür, dass der frustrierte Brunetti sich am Ende doch noch zu umfangreichen Ermittlungen aufrafft.

Brunetti im Stimmungstief

Wieder einmal führen sie tief in den Morast menschlicher Gier und decken eine Tragödie auf, vor der nicht nur Venedig allzu gern die Augen verschließt.  Doch der Ermittlungserfolg ist teuer erkauft und lässt Brunetti verstört zurück. Der 31. Fall sei schon in der Mache, hat Donna Leon in einem Interview verraten. Man darf gespannt sein, ob und wie es ihr gelingt, ihren Commissario wieder aus dem Stimmungstief herauszuholen. Oder ob er sich am Ende womöglich dafür entscheidet, auf dem Land zu leben. Das sei sein Traum, hat er Paolo verraten.

Donna Leons neue Wahlheimat

Donna Leon hat es vorgemacht. Sie hat schon vor Jahren Venedig für ein Kaff im Schweizerischen Val Müstair verlassen. Seit 2020 ist die gebürtige Amerikanerin Schweizerin.  Der Massentourismus und vor allem die Kreuzfahrtschiffe in Venedig wurden ihr zu viel.  „Auf der Strada Nova fühlte ich mich wie in Mumbai“, verriet sie in einem Interview.

Hineingelesen…

… Griffonis Verdacht

„Du hast Borgato aufgespürt? Wunderbar. Wo?“
„Castel Volturno“, antwortete sie und fügte, obwohl sich das eigentlich von selbst verstand, hinzu: „Sitz der nigerianischen Mafia.“
„Erzähl.“
„Vor vierzehn Jahren hat er dort einen Auffahrunfall verursacht – an einer roten Ampel. Vor zwölf Jahren bekam er eine Buße, weil er in Villa Literno, etwa zehn Kilometer von Castel Volturno, bei Rot über eine Kreuzung fuhr. Und vor zehneinhalb Jahren bekam er in Cacello, auch keine zwanzig Kilometer entfernt, ein Bußgeld wegen Raserei. Seitdem nichts mehr, überhaupt kein Ärger mehr mit der Polizei.“
„Das lässt tief blicken“, warf Brunetti ein.
Griffoni nickte. „Denkst du dasselbe wie ich?“, fragte sie.
„Ja, jedenfalls, wenn du denkst, er hat mit der nigerianischen Mafia zu tun, weil die Polizei ihn dann nämlich in Ruhe lassen würde.“
„Für wen sonst könnt er dort gearbeitet haben?“ fragte Griffoni. „Die ist der einzige Arbeitgeber dort. Nur mit kriminellen Geschäften kann man dort Geld verdienen.“
Beide verfielen in Schweigen, bis Griffoni die Geduld verlor und fragte: „Was unternehmen wir?“
„Nichts“, antwortete Brunetti prompt. „Wenn wir davon ausgehen, dass er da mitmischt, können wir nur abwarten und die Ohren offen halten.“
Griffoni sah ihn verwundert an. „Das habe ich von dir noch nie gehört: dass wir nichts machen können.“
Auch Brunetti fand es unerträglich, doch davon wurde es nicht weniger wahr.  Er hatte  – wie jeder Polizist im Land – seit Jahren von der nigerianischen Mafia gelesen und gehört: undurchdringlich, brutal, allgegenwärtig in der Gegend um Castel Volturno. Ein Kollege hatte ein Jahr dort duchgehalten und war dann in den vorzeitigen Ruhestand getreten. Über das, was er dort erlebt hatte, hüllte er sich in Schweigen, zu entlocken war ihm nur, die Stadt liege „in einem anderen Land“.
„Wir können nur weiter nach Informationen suchen. Wir brauchen mehr, als dass er in Castel Volturno gelebt hat: Das macht ihn nicht zum Verbrecher. Bis wir eine Verbindung finden…“, bekräftigte Brunetti, „können wir nichts tun.“
Griffoni ballte frustriert die Fäuste im Schoß.

Info Donna Leon. Flüchtiges Begehren, Diogenes, 315 S., 24 Euro

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