„Durchfahrt ohne Halt“
Reisebücher , Rezensionen / 2. September 2022

Achtung Deutsche Bahn!  Da droht Wiedererkennungsgefahr. In dem Büchlein „Wer später kommt, hat länger Zeit“ rechnet Dietmar Bittrich mit der Bahn ab. Und vieles, was er mit spitzer Feder aufspitzt oder öfter auch mal gallig kommentiert, stößt auch den Bahnkundinnen und -Kunden  immer wieder sauer auf – nicht erst seit Einführung des 9-Euro-Tickets: Verspätungen, geänderte Wagenreihung, kaputte Klos, nicht vorhandene Bordrestaurants, Durchfahrten ohne Halt, Zugausfälle… Eine ganze Litanei könnte man da herunterleiern. Die Krise als Chance Doch Bittrich begnügt sich nicht mit der Aufzählung der Fehlleistungen der Deutschen Bahn. Dazu wären 157 Buchseiten auch zu viel. Ganz im Sinn eines klassischen Kabarettisten ermuntert er dazu, die Krise als Chance zu sehen, die Bahn als „rollenden Kurs in Wundern“. Da wird dann die geänderte Wagenreihung zum Training plus sozialer Interaktion, werden die Baustellen zum Power-Booster, der alternde Bahnhof zum Wegbereiter der Renaturierung und der Stillstand in der Pampa zur Stressbefreiung. Sündenbock Deutsche Bahn Das liest sich teilweise ziemlich lustig, führt aber in der Dauerschleife zu Ermüdungserscheinungen – selbst beim Lesen in der Bahn. Da hilft auch das vertrauliche „Du“ nicht, mit dem Dietmar Bittrich die Lesenden zu Komplizen seiner Bahnschelte machen will. Zumal die  Deutsche Bahn auch für Dauertelefonierer, Hooligans und…

Ulla Hahn und das Eichhörnchen
Rezensionen , Romane / 1. September 2022

Wendelin Kretzschnuss heißt der Erzähler des Romans „Tage in Vitopia“, ein Eichhörnchen. Aufgeschrieben hat seine philosophierenden Ausführungen Ulla Hahn. Dass sich die 77-jährige Schriftstellerin hinter den Sciurus Vulgaris zurückzieht, hat ihr die Freiheit des Drauflos Fabulierens ermöglicht. Und das tut sie in dem Roman, der die Utopie eines guten Lebens in friedlicher Koexistenz von Mensch, Tier und womöglich auch Cyborg in den schönsten Farben zeichnet. Götter, Gelehrte und Gaia Wie in einem Wimmelbuch tauchen prominente Vertreter der Menschheit auf, Götter und Gelehrte ebenso wie Charaktere aus der Literatur. Schatzhauser, der Wünsche erfüllende Waldgeist aus Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ spielt eine Hauptrolle, Nils Holgersson, Kater Murr und Pinocchio sind dabei. Luther und Jesus von Nazareth, Franz von Assisi und Charles Darwin, Hildegard von Bingen, Marie Curie, Mutter Teresa, Richard Wagner, Wilhelm Hauff, Dichterfürst Goethe, sein persischer Kollege Hafis und unzählige andere geben sich bei den Tagen in Vitopia die Ehre, um die Menschheit wieder auf den rechten Weg zu bringen. Zurück zur Natur. Das ist vor allem das Anliegen von Gaia, der „großen Mutter Erde“, die unter den Zerstörungen der Umwelt ächzt. Marx und Morus Geleitet wird die Weltkonferenz im antiken Epidaurus von Karl Marx und Thomas Morus, von…

Erfundenes Leben
Rezensionen , Romane / 26. August 2022

Baret Magarian wurde in London geboren, hat armenische Wurzeln und lebt in Florenz, er hat als Journalist, Schauspieler, Theaterleiter und Aktmodell gearbeitet, hat Persönlichkeiten wie Salman Rushdie oder Peter Ustinov interviewt und sich seit Schulzeiten als Autor versucht. Auch diese Erfahrungen münden wohl in den surrealistischen Roman „Die Erfindung der Wirklichkeit“ – zugleich Medienschelte und Gesellschaftssatire. Zwei Männer, ein Plan Im Mittelpunkt stehen zwei höchst ungleiche Männer: Der Autor Daniel Bloch, ein Mann in der Midlife-Krise, der an einer Schreibblockade leidet und auf der Suche nach Intuition ist. Und der junge Oscar Babel, scheinbar ein geborener Looser, der als Filmvorführer arbeitet, nachdem er sich erfolglos als Maler versucht hat. Dann kommt Bloch die Idee: „Ich könnte eine Geschichte über dich schreiben“, sagt er zu Oscar. „Ich würde mir gern ein anderes Leben für dich ausdenken. Eine Parallelwirklichkeit. Ich könnte eine mögliche Zukunft in Worte meißeln.“ Scheinwelt der Social Media Gesagt, getan. Was dann passiert, erschreckt den Autor zu Tode: Oscars Leben passt sich Blochs literarischen Skizzen an. Es beginnt mit einer Katze und führt geradewegs hinein in die Scheinwelt der Social Media. Und während Bloch dem eigenen Projekt immer ängstlicher gegenüber steht – „Weißt du, dass Kunst töten kann?“ hatte…

Sein Kampf
Rezensionen , Romane / 26. August 2022

Charles Lewinsky (Jahrgang 1946) kann vieles: Volkslieder, Sitcoms, Hörspiele. Vor allem aber kann er schreiben. Und wie! Sein Roman „Der Halbbart“ stand 2020 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Preiswürdig ist auch sein neuer Roman „Sein Sohn“. „Von dem Sohn, den der Herzog von Orléans mit der Köchin Marianne Banzori zeugte, ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 zur Welt kam und in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde. Alles andere ist Erfindung.“ So steht es am Ende dieses Buches. Suche nach der eigenen Identität Für den fiktiven Lebensweg dieses Sohnes hat sich Lewinsky tief in die Geschichte der nachnapoleonischen Zeit begeben. Doch trotz aller historischen Hintergründe ist „Sein Sohn“ viel mehr als ein historischer Roman. Denn die Suche nach der eigenen Identität ist zeitlos. Für Louis Chabot, den Protagonisten des Romans, beginnt das Leben als Underdog in einem Waisenhaus. Ganz allmählich und mit der Hilfe eines wohlwollenden Marquis arbeitet sich der von allen gemobbte Junge zu einem angesehenen Bürger empor. Viel Glück im Leben Das Glück scheint ihm auch in schlimmen Zeiten hold zu sein. Und Louis Chabot ergreift es mit beiden Händen, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. Das zahlt sich…

Die Lehren des Lockdowns
Reisebücher , Rezensionen / 23. August 2022

„Namaste Corona“ rufen Jugendliche in Nepal den beiden deutschen Weltenbummlern hinterher, als die Pandemie ihr Land in einen Lockdown zwingt. Gerade so, als seien die „Westerners“ schuld daran. Namaste Corona heißt auch das Buch, das Michael Moritz über seine Erlebnisse in Nepal während des Corona-Lockdowns geschrieben hat. Zum Stillstand gezwungen Der überzeugte Weltenbummler, der Sicherheit, Job, ja sogar die Liebe seiner Reise-Leidenschaft geopfert hat, wird in Nepal zum Stillstand gezwungen. Allerdings mit der Liebe seines Lebens, Anna, mit der er sich nach einem Jahr verabredet hatte. Im Lockdown sucht sich das Paar eine Unterkunft jenseits der überfüllten Städte Nepals, eine Zuflucht auf dem Land. Türen öffnen sich Sie finden eine Hütte über dem Phewa See, in einer idyllischen Landschaft. Doch weitab von allem, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat. Einfach ist das alles nicht, aber mit der Zeit lernen die beiden nicht nur die Nachbarn und Hausvermieter kennen, sie finden auch Freunde im Ort. Und plötzlich öffnen sich Türen zu einer anderen Art von Leben, einem einfachen Leben ohne große Ansprüche. „Ich bin Tourist“ Michael und Anna packen mit an, helfen, wo sie können. Sogar die Jugendlichen lernen die beiden zu akzeptieren. Und Michael Moritz denkt über die unterschiedlichen Lebensweisen…

Genuss in aller Welt
Reisebücher , Rezensionen / 16. August 2022

„Ich erzähle Geschichten. Ich reise hierhin und dorthin“, wird Anthony Bourdain im Vorwort zum Buch „World Travel“ zitiert. Der 2018 verstorbene Starkoch und TV-Moderator war an allen Ecken und Enden dieser Welt unterwegs. Mit „World Travel“ ist postum ein „gnadenlos subjektiver Reiseführer“ erschienen, eine Hommage an den Genießer Anthony Bourdain  und seine Welt mit Essays von Freunden und Familienmitgliedern. Im Sound des Spitzenkochs „Braucht die Welt noch einen Reiseführer?“ hatte sich Laurie Woolever gefragt, als sie 2017 mit Anthony Bourdain diese Weltreise in Buchform plante – kreuz und quer über den Globus. Doch nach dem Tod des begnadeten Geschichtenerzählers war die Antwort schnell klar. Und so entstand „World Travel“, ein Reiseführer durch die Welt Anthony Bourdains mit eher wenigen Basisinformationen. Dafür im typischen Sound des erfolgreichen Spitzenkochs und Globetrotters, der sich immer klar darüber war: „Ich schaue hin. Ich höre zu. Doch am Ende weiß ich: Es ist meine Geschichte.“ Ein Hoch auf Paris In diesem Sinn führt „World Travel“ von A wie Argentinien („das ist das Reich des Zweifels“) bis V wie Vietnam („das Land hat mittlerweile einen besonderen Platz in meinem Herzen“). Corona spielt noch keine Rolle, und manche Tipps wie die für Hongkong oder Myanmar sind wohl…

Weltreise in Bildern
Reisebücher , Rezensionen / 16. August 2022

Herausgeber Finn Beales  hat sich angesichts der Bilderflut im Netz zum Bildband „Let’s get lost“ seine eigenen Gedanken gemacht.  „Vielleicht besteht das Privileg heutzutage ja darin, sich zu verlaufen?“,  fragt er in der Einleitung. Wer sich verlaufe, müsse sich intensiver mit seiner Situation und Umgebung auseinandersetzen. Sich zu verirren, helfe dabei, „herauszufinden, was wirklich wichtig ist“. Suche nach dem schönsten Bild Die Menschen dürfen wieder reisen. Und sie tun das auch – meist auf ausgetretenen touristischen Pfaden. Ganz anders Naturfotografen. Sie zieht es an entlegene, oft weitgehend unberührte Plätze. Und wenn sie sich auf der Suche nach dem schönsten Bild mal verlaufen, steigert das nur das Erlebnis. „Let‘s get lost“ (Lasst uns verloren gehen) ist denn auch das Motto der Fotografinnen und Fotografen, die der preisgekrönte Fotograf Finn Beales  mit ihren spektakulären Naturaufnahmen in diesem gleichnamigen Bildband versammelt hat. Abseits markierter Wege Ob im Gebirge oder an der Küste, in karger Natur, bei Eis & Schnee, in urtümlichen Wäldern oder an Flüssen & Seen – den Fotografierenden gelangen faszinierende Aufnahmen unserer Welt, auch weil sie nicht auf markierten Leben und mit allen Sicherheiten unterwegs waren. Der Lohn abenteuerlicher Exkursionen waren nicht nur großartige Aufnahmen sondern hin und wieder auch außergewöhnliche…

Traum und Wirklichkeit
Kinderbücher , Rezensionen / 5. August 2022

Tuutiki Tolonen ist eine finnische Schriftstellerin, die schon einige Kinderbücher verfasst hat. Und ihr Roman „Agnes und der Traumschlüssel“ ist eine wunderbare Ferienlektüre, spannend und ein bisschen märchenhaft. Ein neuer Ort, ein neuer Freund Worum es geht, ist schnell erzählt: Agnes und ihre Mutter sind gerade erst in den kleinen finnischen Ort Harmala gezogen. Hier hat die Mutter nach der Scheidung eine Stelle als Journalistin gefunden. Und im Sohn des Chefredakteurs Muffin findet Agnes einen Freund. Das Rätsel des Babygrabs Den braucht sie auch, um ein Rätsel zu lösen, das sie beschäftigt, seit sie auf dem Friedhof auf das Grab eines Babys gestoßen war. Das war gerade mal einen Tag alt geworden und hieß wie sie Agnes. Seither hat Agnes merkwürdige Träume von einer Villa, in deren Garten sie umherirrt und einer herrischen Frau, die sie ruft. Zwei Spürnasen Wie gut, das Muffins Vater Zugang zum Zeitungsarchiv hat. Da finden die zwei Spürnasen Informationen über die Familie des toten Babys – und die Villa, in der die Familie wohnte. Agnes, die jeden Tag den Hund eines Nachbarn spazieren führt, und Muffin beschließen, der Villa einen Besuch abzustatten. Merkwürdigerweise hat Agnes gleich das Gefühl, die Villa zu kennen und Hund Oskar…

Papyrus: Das Überleben der Worte
Rezensionen , Romane / 5. August 2022

Papyrus ist ein Buch über Bücher. Und was für eines! Fabelhaft! Die Spanierin Irene Vallejo erweist sich mit  „Papyrus“ als versierte und wortmächtige Anwältin des gedruckten Buches. Ihre über 700 Seiten dicke Geschichte der Welt in Büchern beginnt im 3. Jahrhundert vor Christus mit der Weltbibliothek von Alexandria und endet mit der Absetzung des letzten römischen Kaisers Romulus Augustus im Jahr 476 nach Christus. Vom Papyrus zum E-Book Dazwischen hat Irene Vallejo viel Zeit und Gelegenheit für Anekdoten, Rekurse auf historische Quellen, Ausflüge in die Gegenwart, ja sogar Kriminalgeschichten. Immer geht es um das Überleben der Worte, ob auf Stein, Ton, Schild, Leder, Holz oder Papier. Es war ein weiter Weg vom gerollten Papyrus der Ägypter über das Pergament der Griechen bis zum E-Book und den Graffiti. Fesselnd wie ein Abenteuerroman Irene Vallejo erzählt eine Überlebensgeschichte so fesselnd wie ein Abenteuerroman: „Das Buch hat sich im Laufe der Zeit bewährt, es hat sich als Langstreckenläufer erwiesen. Wann immer wir aus dem Traum der Revolutionen oder dem Alptraum der Katastrophen erwachten, war das Buch noch da. Es ist, so sage Umberto Eco ‚ein technisch vollendetes Meisterwerk‘.“   Eco ist nicht der einzige Literat, auf den sich Vallejo bezieht, unter anderen treten…

Andrej Kurkow und Kiew
Rezensionen , Romane / 3. August 2022

Andrej Kurkow ist Ukrainer, und das Schicksal der Ukraine liegt ihm am Herzen. Jetzt hat er einen historischen Kriminalroman geschrieben, der 1919 spielt, „weil die Situation damals der heutigen in der Ukraine sehr ähnelt“, wie er dem Spiegel verriet. „Samson und Nadjeschda“ ist keine Liebesgeschichte, eigentlich auch kein Krimi und auch kein historischer Roman, eher alles zusammen und eine Art Schelmenroman dazu. Zufallsopfer der Umbruchszeit Denn dieser Samson, ein studierter Maschinenbauer, wird durch einen unglücklichen Zufall zu einem erfolgreichen Ermittler in der Miliz. Rotarmisten haben auf offener Straße seinen Vater erschlagen und ihm das rechte Ohr abgetrennt. Die beiden gutbürgerlichen Männer sind Zufallsopfer einer brutalen Umbruchszeit. Die russische Revolution hat Horden von Banditen nach Kiew gespült, die der Stadt und den Bewohnern zusetzen. Das talentierte Ohr Doch Samson hat Glück, auch wenn der Augenarzt das Ohr nicht mehr annähen kann. Das in einer Dose aufbewahrte Organ rettet ihm das Leben und wird zum Schlüssel seiner Karriere. Denn wundersamerweise hat das Ohr das Talent eines Abhörgeräts: Es hört mit. Schräge Dialoge, wirre Konversationen aber auch das, was die bei Samson einquartierten Rotarmisten planen, die so eifrig große Säcke in Samsons Wohnung schleppen. Ein Schneider als Opfer Irgendwie geht es dann auch…