Das Mal des Oktopus

1. November 2020

Brustkrebs ist kein Thema, mit dem frau gern konfrontiert wird. Als Un-Frau fühlt sich Klarissa, die Ich-Erzählerin, nach der Operation. Sie hat sich gegen Silikon-Brüste entschieden und sich dafür einen Oktopus über die Narben tätowieren lassen: Schutz gegen den Krebs.

Zurück nach Ei in den Schoß der Familie

Klarissa ist zur Einzelgängerin geworden. Das Filmstudium hat sie aufgegeben, den Freund verlassen. Ihren Lebensunterhalt verdient sie als Burger-Braterin – bis sie ihr Bruder zurück bringt auf die Insel Ei und in das Wirtshaus der Familie. Hier lebt der nach dem Tod seiner Frau und dem der Ersatzmutter „Mammie“ fast verstummte Vater mit dem Bruder und Irina, der Schönen, die irgendwann aus dem Meer auftauchte: „Das fremde, wunderschöne Mädchen, das kein Mädchen und kein Mensch war, verstand kein Wort und fand Mammie sofort sympathisch. Es wurde die Schwester der Tochter des Fischers und des Fischers zweite Tochter und des Sohnes zweite Schwester und Mammies drittes (viertes?) Findelkind.“

Bedrohung durch Windräder und „Zecken“

Doch Ei ist bedroht: Eine Fastfood-Kette, die auch Windräder betreibt, will die Bewohner vertreiben, um noch mehr Windräder zu errichten und womöglich auch noch mehr von den merkwürdigen schwarzen Zecken oder Käfer, die Klarissa entdeckt hat. Wie ein Oktopus, der mit seinen Tentakeln die Beute entmachtet, greift die Firma nach der Insel. Da bleibt die österreichische Autorin Katharina Köller nah dran an der Realität.

Alarmierendes Untergangsszenario

Die „Zecken“ sind radioaktiv, die Folgen grausam: Klarissas Mutter starb an Krebs, später Mammie, und das ungeborene Kind des Bruders ist deformiert. Um die unsichtbare Gefahr zu evozieren, greift Köller auf surreale Bilder zurück, kursiv gedruckt zwischen der realen Erzählung, die ebenfalls immer surrealer wird. Ganz so als könne sich die Autorin nicht entscheiden, wie sie ihr alarmierendes Weltuntergangsszenario inszenieren soll, wenn die Worte fehlen.

Hineingelesen…

… in die Welt von Ei
„Meine Arbeit ist sehr ungesund, müssen Sie wissen. Ich kann es nicht lassen, dort herumzulaufen und den Beatles bei der Arbeit zuzusehen, aber ich möchte den Bewohnern von Ei dringend nahelegen, die Insel zu verlassen. Es besteht ein großes Gesundheitsrisiko. Erst in ein paar Jahrzehnten wird es wieder möglich sein, dort zu leben.“
Ich hielt meine Hände vor den Mund und dämpfte damit einen Schrei, und ich wusste, unser Vater würde sich jetzt ganz bestimmt aufhängen. Er saß da, klein in seinen Kleidern auf der Bank an den Kamin gelehnt, der vielleicht nie wieder brennen würde, und stierte zu dem Mann mit dem blassen Gesicht und der exzentrischen Brille im Scheinwerferlicht und verstand immer noch nicht. Er sah mich irritiert an, weil ich mir in die Handfläche biss, und wusste nicht genau, und Bill wusste auch nicht genau, aber spürte, witterte und endlich verstand er. Ein roter Fleck bildete sich zwischen seinen Augen, dehnte sich aus bis über die Stirn. Unser Vater sah im Spiegel unserer Gesichter, was das zu bedeuten hatte, was dieser sympathische Mensch da von sich gegeben hatte, über innovative Technik und Gammastrahlung fressende Käfer, Atome und Elektronen, Schalentiere und dass man hier nicht bleiben dürfe, dass das Haus unserer Mutter, die echte Piratenkneipe, auf zersetztem Boden stand und dass die Klippe bröckelte und ins Meer fallen würde, in die schwarzen Schluchten, in der die Piraten endeten, und dass es keinen Kampf um diesen Boden geben würde und auch keinen Sieg, weil außer Käfern sowieso niemand hier leben konnte.

Info: Katharina Köller. „Was ich im Wasser sah“, Frankfurter Verlagsanstalt, 320 S.,  20,70 Euro

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