Ian McEwan muss sich nichts mehr beweisen. Der 77-jährige Brite gilt schon lange als Star-Autor – bei der Literaturkritik und bei der Lese-Gemeinde. Der neue Roman „Was wir wissen können“ ist eine Dystopie, ein Krimi, ein Liebesroman. Kurz: Ein Meisterwerk.
Der Literaturschatz
Er habe sich von Stevensons Schatzinsel inspirieren lassen, sagte McEwan in einem Interview. In seinem Roman geht es allerdings nicht um einen Goldschatz, sondern um ein verlorenes Stück großer Literatur. Der Literaturwissenschaftler Tom Metcalfe beschäftigt sich im Jahr 2119 mit der Literatur des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts und da speziell mit Francis Blundy, den er für einen der größten Dichter jener Zeit hält.
Dystopische Welt
Doch ausgerechnet Blundys wohl größtes Werk, der „Sonettenkranz für Vivien“, den der Dichter seiner Frau gewidmet hat, ist unauffindbar. Mit seiner Kollegin Rose, die später seine Frau wird, macht sich Tom auf die beschwerliche Suche und imaginiert dabei die Welt vor 100 Jahren – unsere Gegenwart. Toms Gegenwart ist eine andere: Kriege, Pandemien und ein nuklearer Schlagabtausch haben die Menschheit dezimiert. Die Vereinigten Staaten sind durch Bürgerkriege zerfallen. Deutschland gehört dem Großrussischen Reich an. Großbritannien besteht aus mehr oder weniger zugänglichen Inseln. London, Rotterdam und New York sind untergegangen.
Schnitzeljagd in die Vergangenheit
In der renommierten Bodleian Bibliothek erforscht Tom die versunkene Welt „seines“ Dichters und dessen Frau. Seine Begeisterung kann er nur mit Rose teilen, den Studenten mangelt es an Interesse an der alten Zeit. Der verschwundene „Sonettenkranz“ wurde nach Toms Recherchen nur an Viviens Geburtstag vorgetragen und von da an zu einer Art Mythos. Aus Briefen, Mails, SMS und Tagebuch-Einträgen versucht Tom, den Abend zu rekonstruieren. Dabei kommt er Vivien so nahe, dass es Roses Eifersucht weckt. Und doch begibt sie sich mit ihm auf die Suche nach dem Gedichtzyklus, auf eine Schnitzeljagd in die Vergangenheit.
Viviens Tagebuch
Was ist beiden schließlich finden, ist allerdings etwas ganz anderes. Etwas, das Toms Vorstellungen von Blundys Zeit als Wunschdenken entlarvt. Etwas, das die Auffassung von Geschichte relativiert: Viviens Tagebuch. Durch den Kunstgriff beginnt sie selbst zu sprechen und erzählt, was an dem legendären Abend tatsächlich passiert ist. Aber auch, was dem Gedicht vorausgegangen ist. Sie erzählt von einer großen Liebe, von Untreue und Verrat, ja von Mord, aber auch von der Sorglosigkeit der Menschen angesichts des Klimawandels.
Versengte Erde
Während Tom jene Zeit idealisiert, sieht Rose darin die Wurzel künftigen Übels: „Was, wollte sie wissen, sei mit der selbstsüchtigen Kurzsichtigkeit, der schieren Torheit, Verlogenheit oder Boshaftigkeit der Politiker – um nur ein paar Dinge zu nennen – oder dem Duckmäusertum, der feigen Idiotie, dem Terror der Bevölkerung? Was mit deren sorglosen Vorlieben für Autokraten? Wie können wir übersehen oder vergeben, welche Verwüstung jene Zeiten hinterlassen haben, das Gift in den Meeren, die vernichteten Wälder, das unbrauchbare Land und die Flüsse, die sie ruiniert haben, und dazu die Disruption, die sie vorhergesehen, aber nicht verhindert haben. Für die nachfolgenden Generationen blieb nur versengte Erde, nur heitere Verachtung.“
Unzuverlässige Forschung
„Was wir wissen können“ ist vor allem bei Vivien nachlesbar, die wie ihre Freunde das Leben in vollen Zügen genießt – ohne Rücksicht auf die Folgen für die Nachkommenden. Die Zweiteilung des Romans ist ein Geniestreich, macht sie doch deutlich, wie weit individuelle Erinnerung und globale Geschichte auseinander liegen und wie unzuverlässig selbst Forschung ist. Auch dazu geben Viviens Tagebuch-Aufzeichnungen einen ironischen Hinweis.
„Was wir wissen können“ ist ein großartiger Roman mit überraschenden Wendungen. Ian McEwan zwingt die Lesenden, sich mit ihrer Gegenwart zu beschäftigen und sich den drängenden Fragen der Zukunft zu stellen.
Ian McEwan. Was wir wissen können, in Deutsche übertragen von Bernhard Robben, Diogenes, 470 S., 28 Euro
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