Ein Land im Koma

25. März 2021

Was für ein Buch: Sasha Filipenko, 1984 in Minsk geboren und in St. Petersburg lebend, hat das belarussische Drama in einen Roman gegossen, der niemand kalt lassen kann. Zu gegenwärtig sind noch die verzweifelten Demonstrationen gegen Lukaschenko auf den Straßen von Minsk. „Meine inständige Hoffnung ist, dass diese Buch in meinem Land eines Tages nicht mehr aktuell sein wird“ schreibt der Autor im Vorwort.

Keine Hoffnung auf Freiheit

Es sieht nicht danach aus, als würde diese Hoffnung bald in Erfüllung gehen. Es sieht eher danach aus, als würde das Land unter dem ungeliebten Diktator weiter im Koma dahinsiechen, als würde alles bleiben wie es ist. Keine Aussicht auf Veränderung, keine Hoffnung auf Freiheit. Filipenko hat dafür Bilder gefunden, die haften bleiben.

Angepasstes Leben

Im Zentrum des Romans steht der 16-jährige Franzisk Lukitsch, der bei seiner liebevollen aber strengen Babuschka aufwächst und in einem staatlichen Gymnasium Cello lernt. Die Lehrer sind angepasst, unterrichten nach staatlicher Interpretation, andere haben keine Chance. Franzisk und seine Freunde sind es leid, wollen Spaß haben, die Jugend genießen, das Leben feiern.
Doch bei einer Massenpanik wird der Junge schwer verletzt und fällt ins Koma.

Die Hoffnung der Babuschka

Obwohl der behandelnde Arzt und spätere Mann der Mutter darauf besteht, dass Franzisk nur mehr „Gemüse“ ist, gibt die Großmutter die Hoffnung nicht auf, ihren Enkel zurück ins Leben erzählen zu können. Sie liest ihm vor, berichtet aus dem eigenen Leben und von den deutschen Gasteltern, die irgendwann auch zu Besuch kommen in Franzisks Krankenzimmer. Doch nichts scheint zu helfen. Jahr um Jahr vergeht.

Unerwartetes Erwachen

Dann stirbt die Großmutter – und Franzisk erwacht. Nach zehn Jahren hat er das Gefühl, nichts habe sich verändert. Noch immer ist Lukaschenko an der Macht, noch immer werden Regimegegner weggesperrt oder umgebracht, noch immer herrscht Tristesse in Minsk. Der junge Mann versucht sich am neuen Leben und fühlt sich doch fremd.

Es gibt keine Wunder

Und plötzlich scheint es doch so etwas wie ein Erwachen im Land zu geben. Nach Lukaschenkos geklautem Sieg gehen die Menschen zu Zehntausenden auf die Straße. Womöglich geht es Belarus wie ihm selbst, hofft Franzisk – und die Menschen erwachen aus einem langen Koma, reiben sich die Augen und nehmen die Politik selbst in die Hand. Doch auch diese Hoffnung trügt, die Gewalt siegt: „Aus einem so langen Koma erwacht man nicht. Es gibt keine Wunder. In diesem verängstigten, an die Wand gefahrenen, in die Ecke gedrängten Land konnte all das nicht passieren.“

Die Flucht als Ausweg

Womöglich begeht das ganze Land Selbstmord wie Franzisks Freund Stass. Für sich sieht der junge Mann nur einen Ausweg: Er geht nach Deutschland zu seinen Gasteltern und wird für seine Mutter tatsächlich das, was der Titel verspricht: „Der ehemalige Sohn“.
Schon mit seinem Roman „Rote Kreuze“ über den Stalinterror hat Filipenko seine erzählerische Meisterschaft bewiesen. Auch in diesem Roman überzeugt der junge Autor mit großer Fabulierfreude und stilistischer Wucht. Lesen!

Hineingelesen…

… in Stass‘ Abrechnung mit dem Regime 

Vielleicht wird ja alles anders, wenn du aufwachst, aber derzeit rate ich dir – wach nicht auf! Schlaf weiter. Nein, im Ernst, schlaf‘ lieber. Sonst sagst du noch was, und du wirst sofort eingesperrt oder zusammengeschlagen vor dem Hauseingang. Etwas anderes gibt es nicht in diesem Land. Entweder du hältst die Klappe, oder du kriegst eine auf den Deckel. Das ganze Land schläft, also schlaf auch du ruhig weiter. So beschissen ging‘s uns noch nie. Alle sagen gebetsmühlenartig: Schau nur, wie gut es uns geht, Ruhe, stabile Einkommen, Sauberkeit, Wirtschaftswunder! Aber ich sag‘ dir was – es gibt kein Wunder. Fassadenpolitik! Sie haben es so gedreht, dass ein Tourist, der zwei Tage hier ist (länger braucht er nicht für alles), sich denkt, wir leben gut, fast wie im Westen. Aber so ist es nicht. Das ist ja Sand in die Augen!… Sei mir nicht böse, aber so kann es wirklich nicht weitergehen. In den Nachrichten bringen sie immer nur: Das Gras ist grüner geworden, die Milchmengen größer, die Hockeymannschaft des Präsidenten hat wieder einmal gewonnen gegen die Arschkriecher, die extra gekommen sind um gegen sie zu verlieren. So sehen bei uns die Nachrichten aus. Davon, dass die Wirtschaft eigentlich nicht existiert, davon, dass alle Konkurrenten des Präsidenten irgendwie verschwinden, dass wir von der ganzen Welt isoliert und nur mehr mit Dikatorenregeminen befreundet sind, davon kein Sterbenswort.

Info: Sasha Filipenko. Der ehemalige Sohn, Diogenes, 320 S., 3 Euro

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