Explosive Mischung

24. Juli 2020

Starker Tobak, dieser  Turmschatten, mit dem der 56-jährige Münchner Peter Grandl erstmals als Romanautor in Erscheinung tritt. 600 hoch spannende Seiten, auf denen existentielle Fragen ebenso abgehandelt werden wie die Skrupellosigkeit von Reality TV-Shows und die Gesetzlosigkeit der digitalen Kommunikation. Fünf Jahre hat Grandl an seinem dicken Werk gearbeitet, das 2010 spielt, in der Hoch-Zeit der NPD, und doch genau heute – zur Zeit, da der Attentäter von Halle vor Gericht steht – wieder ganz aktuell ist.

Todesurteil per Live-Stream

Der Medienspezialist hat viel hineingepackt in seinen Thriller um einen alten Juden, der Rache üben will: Das Gladbecker Geiseldrama, das Attentat auf das Münchner Oktoberfest, das Geiseldrama bei den Olympischen Spielen in München, die Eichmann- Entführung. Hinzu kommen ein quotengeiler Fernsehproduzent und eine minderbegabte aber attraktive Moderatorin, wie sie Leser aus der bitterbösen Romansatire von Timur Vernes „Die Hungrigen und die Satten“ kennen. Die Story „Jude droht mit der Ermordung von drei Neonazis“ fasziniert den TV-Mann ebenso wie die Idee des alten Mannes, ein Millionenpublikum per Live-Stream im Internet über Leben und Tod der Geiseln abstimmen zu lassen.

Neue Synagoge als Stein des Anstosses

Die Geschichte von Turmschatten  ist schnell erzählt: Dass in ihrer Stadt ein neue Synagoge gebaut werden soll, wollen die örtlichen Neonazis nicht dulden. Im Auftrag ihres Chefs bedrohen die jungen Wilden die Bürgermeisterin, die ihnen den Namen des Hauptsponsors verrät. So kommt Ephraim Zamir ins Spiel. Wer er ist und was ihn antreibt, erfahren Polizei und Öffentlichkeit erst nach und nach. Der 70-jährige Jude ist erst vor Kurzem in die Stadt im Osten Deutschlands gezogen. In einem Turm hat er mit der jungen,  taubstummen Esther, die ihm den Haushalt macht, zu einem beschaulichen Leben gefunden. Dann stirbt Ester durch die Kugeln eines der Neonazis, die Zamir einen Denkzettel erteilen wollten. Der Schütze ist noch ein Junge, 14 Jahre alt. Auf Aufforderung seines Mentors flieht er.

Machtlose Polizei

Für die anderen drei Neonazis beginnt ein Drama, bei dem die großen Themen wie Gerechtigkeit und Rache abgehandelt werden. Gegen den alten Mann haben die jungen Schläger keine Chance. Denn Zamir ist ein ehemaliger Mossad-Agent, der untergetauchte NS-Verbrecher jagte und tötete. Der gewaltsamen Befragung der Neonazis im Turm folgt ein Millionenpublikum mit zunehmender Faszination und die Polizei mit gefährlicher Machtlosigkeit.

Stoff für eine Fernsehserie?

Auch die Leser hat Grandl mit seiner explosiven Mischung schnell am Haken. Die 600 Seiten bis zum doch noch unerwarteten Ende lesen sich schnell weg. Kein Wunder, dass das Buch auf der weltweit größten Literaturplattform wattpad.com 2019 den „Watty Award“ gewonnen hat. Hier hat Grandl vor dem Buchvertrag den Roman Kapitel für Kapitel kostenlos veröffentlicht. Für den „Crime Cologne Award 2020“ ist Turmschatten  ebenfalls nominiert. Und, wenn alles gut geht, könnte die Geschichte in zwei Jahren als Fernsehserie herauskommen. Womöglich mit Heiner Lauterbach als Ephraim Zamir…

Hineingelesen…

… in die Welt der Neonazis

„Ihr seid alle Schafe, die man laut blökend zur Schlachtbank führt. Diese kranke Sache hier ist doch der beste Beweis dafür, wie blind ihr alle geworden seid. Ihr seht zu, wie ich hier geschlagen und gedemütigt werde, und holt euch dabei einen runter. Der ganze Staat, die Polizei, die Regierung … alles ist längst unterwandert von Juden, die alles kontrollieren und alles steuern, wie es schon seit Jahrzehnten in Amerika und in Russland der Fall ist. Der glorreiche Anschlag auf das World Trade Center war doch kein Angriff auf die freie Welt – scheiß drauf, ihr seid nicht frei. Das wollen die euch doch nur glauben machen. Dieser heldenhafte Angriff war ein Vergeltungsakt an den Juden. Und wenn ihr das nicht erkennt und nicht bald was gegen sie unternehmt, wird es zu spät sein. Nicht Hitler wollte die Weltherrschaft, die Juden wollten sie, und Hitler hatte das erkannt und wollte sie daran hindern. Aber ihr unternehmt gar nichts! Fahrt doch alle zur Hölle!“
Gottfried schnappte nach Luft. Speichel tropfte aus seinen Mundwinkeln. Durch die enorme Anstrengung war das verbrannte Augenlid gerissen. Ein kleines, blutiges Rinnsal bahnte sich einen Weg über seine Wange, während sein rot unterlaufener Augapfel durch den Spalt zu sehen war. Erschöpft sackte Gottfried zusammen.
Eigentlich hatte Zamir erreicht, was er wollte, er hatte Wegener aus der Reserve gelockt, aber die Stimmen für  „Tod“ stagnierten, wohingegen die Stimmen für »Leben« leicht zunahmen. Damit hatte er nicht gerechnet.
War es wirklich so einfach, das Volk mit ein paar Stammtisch-Phrasen zu beeindrucken? Hatte er hier ungewollt den Nazis eine Plattform für subversives Gedankengut verschafft?
Er spürte, wie die Wut langsam in ihm hochkroch. War das ganze Schauspiel ein Fehler gewesen? Hätte er Esthers Mörder doch einfach in „Notwehr“ töten sollen? Er schloss kurz die Augen, sah Esther vor sich, die ihn milde anlächelte. Der impulsive Drang, seinem Gegenüber eine Kugel in den Kopf zu jagen, verschwand.“

Info: Peter Grandl, Turmschatten, Eulenspiegel Verlagsgruppe,P 592 S., 25 Euro

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