Frauenleben in finsteren Zeiten

3. Februar 2023

„Ich schreibe, um hörbar zu machen, in Sprache zu übersetzen, was gemeinhin nicht gesprochen wird, nicht sprechbar scheint.“ Ulrike Draesner ist Lyrikerin, Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin. Auch in ihrem neuen Roman „Die Verwandelten“ überschreitet sie die Grenze zwischen Prosa und Lyrik, zwischen Ländern und Sprachen und versucht, Unbegreifliches in Worte zu kleiden, Unaussprechliches zu skizzieren.

Gewalt gegen Frauen

Die Verwandelten  sind allesamt Frauen, traumatisiert von Krieg- und Nachkriegserfahrungen.  Ulrike Draesner schreibt von Gewalt gegen Frauen als Mittel zur Unterwerfung und darüber, was diese Gewalt mit den Frauen macht, wie sie sie für immer verwandelt. Als Russland seinen Krieg gegen die Ukraine begann, konnte Draesner, sagte sie in einem Interview, kaum weiterschreiben. „Viel zu gut konnte ich mir vorstellen, welche Arten von Gewalt nun erneut in Gang gesetzt worden waren.“

Interviews und Erinnerungen

Das Material zu ihrem oft schwer verdaulichen aber umso beeindruckenderen Roman hat sie über Interviews und Zeitzeugenerzählungen gesammelt und in Fiktion verwandelt. Es geht ihr um „das weibliche Gesicht des Krieges innerhalb der Zivilbevölkerung“. Dabei springt sie zwischen den Zeiten und Perspektiven, was den Lesenden ein hohes Maß an Aufmerksamkeit abverlangt. Um die Frauen von Anfang an einordnen zu können, lohnt sich ein Blick auf das Figurenverzeichnis im Anhang.

Geburt im Lebensborn-Heim

Es sind Frauen aller Altersstufen und Erfahrungen:  Die nationalsozialistische Vorzeigemutter Gerda, traumatisiert vom Verlust des eigenen Kindes und bereit, für ihre Ehe die eigene Unversehrtheit zu opfern. Else, die Frau des Breslauer Theaterdirektors, die ihren Mann mit dem Dienstmädchen Adele teilt und dafür sorgt, dass deren Kind im Lebensborn-Heim in München-Solln auf die Welt kommt. Elses Tochter Reni, die im Krieg durch die Hölle geht und nur als Verwandelte überleben kann.

Suche nach den Ursprüngen

Adeles Tochter Alissa wächst nach der Adoption im reichen Nazi-Haushalt auf und kann ihrer Tochter Kinga ein sorgenloses Studium finanzieren. Als Anwältin macht sich Kinga mit der eigenen – schwarzen – Adoptivtochter Flummy auf die Suche nach ihrer polnischen Familie, von der sie erst nach dem Tod der Mutter erfahren hat. Von Doro, der Tochter der in eine Polin verwandelten Reni, die in Deutschland Karriere gemacht hat.

Enges Familiengeflecht

Es ist ein dicht gewebtes Familiengeflecht, das Draesner nur nach und nach entwirrt. Und immer steht da die Frage, warum es vor allem die Frauen sind, die in entmenschten Kriegs- und Migrationssituationen Gefahr laufen, ihre Identität zu verlieren.  Ulrike Draesner erzählt vom Grauen der Vertreibung, von finsteren Zeiten, in denen die Menschlichkeit verloren ging. Dafür findet sie eine starke Sprache, die auch Ungesagtes begreiflich macht.

Hineingelesen…

… in die Verwandlungen

Aus der Leere stieg eine Ahnung, die mich schlagartig entsetzlich müde machte. Ich, das Gegenteil von Walla, das unabhängige Vögelchen im großen reichen Deutschland? Reni hatte sich mit sechzehn Jahren in die Polin Walla verwandelt. Ich, die junge Polin, hatte mich in deine Deutsche verwandelt, nachdem ich 1981 in Deutschland Bier herumtrug und nicht mehr nach Polen zurückfuhr, weil der Advent dort nicht nur Kerzen, sondern ach ein Kriegsrecht gebracht hatte. Walla sprach Polnisch ohne deutschen Akzent, polnischer als die Polen, und ich sprach Deutsch wie eine Hannoveranerin, da hörte man keinen Unterschied. In Kürze wollte ich einen deutschen Nachnamen annehmen und Deutsche werden. Während meine Mutter einen Polen geheiratet hatte. Ich hatte Mutters Leben nachgespielt, überkreuz. Ich war vor ihr und ihrem Wesen weggelaufen – nach Deutschland! Also geradewegs in die Fall. Na ja, in eine Art Programm. In eine Undurchschaubarkeit….
Tereza schaute mich an, als könnte sie Gedanken lesen, grinste etwas verlegen und schenkte nach.
Da begriff ich. „Du hast von Mamas Deutschentorte gewusst, all die Jahre hast du es gewusst und geschwiegen wie ein fauler Fisch.“
„Beruhig‘ dich“, sagte sie. Es habe jede Menge Zeichen gegeben. Ich könnte nicht wirklich ahnungslos gewesen sein .Ich hätte es nicht wahrhaben wollen. Hätte es vorgezogen, blind durch die Welt zu hüpfen und das Leben unserer Mutter nachzuspielen.
Else zum Beispiel, unsere Oma. Else Valerius, deutsch vorn, deutsch hinten. Das hatte mir niemand verschwiegen. Wir hatten eine polnische Mutter, die Deutsch sprach, und eine deutsche Oma. Und ich hatte mir nichts dabei gedacht?

Info Ulrike Draesner, Die Verwandelten, Penguin, 608 S., 26 Euro

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