Leben im Beton

25. Mai 2021

Julia Rothenburg… „findet eine reduzierte, prägnante, musikalische Sprache für die beschädigten Existenzen ihres dritten Romans“ heißt es in der Begründung der Jury für den „Bayern2-Wortspiele-Preis“, den die junge Autorin gerade für „Mond über Beton“ erhalten hat. Im Zentrum des Romans, in dem der Mond eher selten zu sehen ist, steht das „Neue Zentrum Kreuzberg“ (NZK) am Kottbusser Tor in Berlin.

Die Bewohner im Blick

Der zwölfstöckige Hochhausriegel aus den 1980er Jahren hat auch in letzter Zeit immer wieder für negative Schlagzeilen gesorgt. Julia Rothenburg hat das zum Anlass genommen, genauer hinzuschauen, wie die Bewohner in dem heruntergekommenen Gebäudekomplex leben. Wie sie mit Säufern, Junkies und Obdachlosen zurecht kommen, die sich rund um den Betonklotz breit gemacht haben.

Der Kotti-Kosmos

Der Türke Mutlu und seine mutterlosen Söhne, seine schöne aber überforderte Nichte Aylin, die beiden Deutschen Marianne und Günter, Überlebende der Besetzer-Szene, die einsame Witwe Stanca mit ihrem Hund und der verwirrte Obdachlose Ario – sie stehen für den Kotti-Kosmos. Doch über allem thront das Zentrum aus Beton.

Riss in der Realität

Der Autorin gelingt es auf verblüffende Weise, diesen Beton lebendig werden zu lassen – mit Klagen über die ständige Vernachlässigung und einer späten Rache. So entsteht ein Riss in der Roman-Realität, durch den etwas Fantastisches eindringt. Aber es knirscht ohnehin an allen Ecken und Enden in diesem Beton-Koloss. Die Bewohner tun sich zusammen, um sich gegen eine diffuse Bedrohung zur Wehr zu setzen, während von unerwarteter Seite eine neue Gefahr droht.

Urlaub, wo andere kotzen

Der Internet-Star Kaan will darin ein Hostel eröffnen: „Das wollen die Traveller. Die wollen was erleben, das richtige Berlin, die geheimen, verruchten, krassen Ecken. Die wollen mittendrin sein. Adventure. Wir geben ihnen mittendrin. Urlaub machen, wo andere kotzen, verstehste?“ Julia  Rothenburg ist nah dran an ihren Figuren, auch mit ihrer Sprache. Hat man sich erst einmal an den grammatikfreien Stil gewöhnt, entwickelt der Roman einen Sog, dem man nur schwerlich entkommt.

Hineingelesen…

… in Mariannes Aufräum-Gedanken

Da ist sie wieder, die Sauerei. Bei dem Erbrochenen fängt sie gar nicht erst an, wer ist sie denn, dass sie das jetzt wegwischt. Aber die spritzen, da kann sich jemand dran verletzen. Gefährlich ist das.  Was macht eigentlich dieses Drogenmobil? Gibt’s das noch? Oder wenigstens diesen Automaten für Spritzbesteck könnten sie wieder einführen, das muss sie auf die Liste setzen für den nächsten Bürgertreff. Früher hat man wenigstens so getan, als würde man sich dafür interessieren, was mit diesen Leuten passiert. Sieht sie genau vor sich, sie die da immer versucht haben, die benutzten Bestecke rauszuholen aus dem Automaten, falls noch was dran sein sollte an der Nadel. Diese armen Menschen, keine Perspektive, interessiert niemanden. Fahrlässig ist es, die sich selbst zu überlassen. Aber muss das am Kotti sein?
Dabei sind die Junkies gar nicht mal das Schlimmste, sind ja meistens harmlos, arme Gestalten, aber was mit denen kommt, das ganz Drogenkartell, das kriminelle Milieu, der ganze Schmutz. Die Angst, die sich hier so einnisten konnte am Kotti. Das geht doch so nicht. Hier wohnen schließlich auch Menschen, Kinder, viele sogar, und sie schon seit, ach, da kann sie gar nicht zählen. Und dass jetzt hier dieses Erbrochene schon halb eingetrocknet ist, ist einfach nur. Am Kotti trocknen die widerlichsten Dinge ein, und keiner merkt es. Jeder stampft das Zeug nur tiefer in den Boden ein.

Info Julia Rotenburg. Mond über Beton, Frankfurter Verlagsanstalt, 310 S., 22 Euro

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