Leben in der Geschichte

16. Juli 2018

Eine jüdische Familie in New York. Die alt gewordene Bella erinnert sich an ihre Jugend in Berlin – und an die Rettung ihrer Familie durch einen ägyptischen Arzt. Sie hat die Geschichte schon viele Male erzählt, doch kaum jemand aus ihrer zahlreichen Nachkommenschaft interessiert sich mehr dafür. Die Jungen haben andere Probleme: Der schwarze Schwiegersohn Nigel, Sohn eines Afroamerikaners und einer Deutschen, deren Vater ein hohes Tier bei den Nazis war, weiß, dass seine Frau Louise ihn betrügt. Die kleine Tochter Chelsey hat das Down-Syndrom und ist doch der Liebling aller. Die zweite Tochter Grace hat in einen irischen Clan eingeheiratet, zu dem Bella nur schwer Zugang findet. Dabei gäbe es doch die ganze Großfamilie nicht, wenn „es damals in Berlin Dr. Fareed nicht gegeben hätte“.

Die Last der Vergangenheit

An Bellas Geburtstag wird dieser Satz gebetsmühlenartig wiederholt – mit mehr oder weniger Überzeugung. „Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbrächte, meine Erinnerungen ein für alle Mal irgendwo zu verschließen,“ sagt die alte Frau zu einem der Iren. „Euch gegenüber wäre es eigentlich nur fair und richtig. Ihr tragt die Last der Vergangenheit mit. Ich gehe euch damit auf die Nerven.“ Jürgen Seidel erzählt die auf einem wahren Schicksal basierende Geschichte einer wunderbaren Rettung in Vor- und Rückblicken, wobei sich die Hauptfigur Bella klar werden muss, dass sie im Leben ihrer Kinder „überhaupt keine Rolle“ mehr spielt. Dass die ihr eigenes Leben, ihre eigenen Probleme haben, gibt Bella aber auch die Freiheit, sich ihren Erinnerungen hinzugeben und sich auch unbequemen Wahrheiten zu stellen.

Eine Liebesgeschichte als roter Faden 

So kann  der Autor  noch eine große Liebesgeschichte in seinen Roman packen. Auch wenn die Liebe zwischen dem jüdischen Mädchen Bella und dem blonden Joost keine Erfüllung findet, weil die beiden wie die Königskinder nicht zu einander kommen können, ist sie doch die Grundierung zu Bellas Leben und ein roter Faden in diesem dicken Roman. Er beginnt 1939, als Bellas Eltern ihr Wohn- und Geschäftshaus verkaufen mussten, und endet in der Gegenwart.

Parallelen zum Gestern 

Dazwischen ereignet sich eine Tragödie, die die Familie wieder zusammen bringt: Ein Polizist schießt auf den betrunkenen Nigel, der mit einer Spielzeugpistole herumfuchtelt. Auch Nigel, das erkennt Bella spät, hat sich als Ausgestoßener empfunden, als Unbehauster. Und gerade deshalb hat er sich in die Familiengeschichte gestürzt und dabei nicht nur schmerzhafte Wahrheiten über Bellas Mann Oz zutage gefördert, sondern auch für die Anerkennung des ägyptischen Lebensretters gekämpft.
Vielleicht hat Jürgen Seidel ein bisschen viel Außenseitertum in diesen Roman hinein verwoben. Aber die fast 480 Seiten lassen eine Zeit lebendig werden, die auch wir am liebsten vergessen würden. Und diesmal sind es nicht die Schrecken der Konzentrationslager, die durch den Roman vergegenwärtigt werden, es ist das – ständig gefährdete – Leben im Untergrund und die Geschichte einer unglaublichen Rettung. Sie erzählt von Menschlichkeit und Würde in einer unmenschlichen Zeit. Weil beides derzeit wieder zur Disposition stellt, ist dieser Roman wichtig – auch als Diskussionsgrundlage.
Info: Jürgen Seidel. Die Rettung einer ganzen Welt, dtv premium, 478 S., 16,90 Euro

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