Matriarchat am See

3. April 2023

„Männer starben bei uns nicht“, heißt es gleich zu Anfang des neuen Romans von Annika Reich. „Männer kamen und gingen“. Doch in diesem Frauenhaushalt, den Reich in „Männer sterben bei uns nicht“ entwirft, kommt und geht kein Mann.

Frauen unter sich

Die Frauen in dem Anwesen am See, „das vor Pracht, Verheißung und Verhängnis vibrierte wie sonst nur große,destruktive Lieben“, bleiben in diesem weiblichen Kosmos unter sich: Die alle beherrschende Großmutter, die Enkelin Luise, die als Ich-Erzählerin den Ton angibt, ihre schöne aber gefühlsarme Mutter, die Tante und deren Tochter sowie die Haushälterin Justyna.
Eigentlich würde auch noch Luises Schwester Leni dazu gehören, aber die ist von einem Tag auf den anderen verschwunden. Eine Tatsache, die Luise so sehr beunruhigt, dass sie in zwei toten Frauen, die im See angeschwemmt werden, Leni zu erkennen glaubt.

Frage der Erinnerung

Doch wie zuverlässig ist die Erinnerung? Was war da wirklich mit Luises geliebter und rebellischer Schwester? Bei der Beerdigung der Matriarchin taucht sie jedenfalls auf ebenso wie eine Schwester der Großmutter, von deren Existenz Luise nichts ahnte.  Die Großmutter hatte sie aussortiert, weil sie nicht in ihr am Patriarchat orientiertes System passte – wie Leni.

Täterinnen und Opfer

Die anderen Frauen spielen eine Nebenrolle, sind durchs Raster gefallen aber eben nicht auffällig geworden. Sie haben sich gefügt.  Zu verbergen haben sie alle etwas, sind zugleich Täterinnen und Opfer wie die so mächtige Großmutter.  Sie hatte in ihrem Reich nur eine Kleinigkeit vergessen hatte, „dass sie eins eben doch nicht war: ein Mann“.

Kein Platz für Gefühle

Nur Luise scheint der mächtigen Großmutter des Erbes würdig, sie ist ihr Augenstern, in den sie investiert: Seidenunterwäsche schon in die Zehnjährige, später Schmuck aber kaum Gefühle. Luise muss mit ihren Ängsten allein zurechtkommen. Man denkt nicht lange nach in diesem Matriarchat, vergisst alles Störende, macht weiter. In dem großen Anwesen ist kein Platz für Gefühle oder intime Gespräche – dazu braucht Luise die Freundin und deren Familie.

Ambivalente Ziele

Aber auch Luise ist ambivalent. Einerseits folgt sie dem Vorbild der Großmutter, andererseits sucht sie ihren eigenen Weg. Auch im Roman bleibt vieles ungesagt, ungelöst. Eine Herausforderung für die Lesenden, die in diesem oft rätselhaften Roman so manches wiedererkennen könnten.

Hineingelesen…

…in die Geschichte der Mutter

Meine Mutter verschob ihre und meine Gefühle nicht nur, um ihnen irgedwann besser begegnen zu können, sie verschob sie auf Nimmerwiedersehen. Sie würde sich von mir nicht zwingen lassen, ihnen noch einmal zu begegnen, auch wenn das bedeutete, dass ich mit meinen Gefühlen allein bleiben musste.
Sie sang jetzt laut mit, einen deutschen Schlager. Sie liebte deutsche Schlager, Süßigkeiten und die Verflüchtigung von Gefühlen. Inzwischen hatte sie das Radio so laut aufgedreht, dass ich hier oben in meinem Zimmer jedes Wort verstand. Es ging um Berge, Wälder Seen.
Sie wollte mich aufmuntern, sie wollte mir beibrngen, einfach mitzusingen und die toten Frauen zu überleben, Lenis Verschwinden zu überleben, das Leben zu überleben. Sie hatte den Krieg, den Hunger, die Angst, die Einsamkeit und diese eine Nacht überlebt. Diese Nacht, über die sie nie sprach und von der ich nur eine vage Szene im Kopf hatte, in der meine Mutter mit zusammengebissenen Lippen, blauen Flecken an den Beinen und einem hellblauen Kleidchen ihre Koffer packte.
Ich lag auf dem rücken und versuchte, einen ihrer Schlager mitzusingen. Es kam kein Ton.

Info. Annika Reich. Männer sterben bei uns nicht, Hanser Berlin, 205 S., 23 Euro

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