Schuld und Mitschuld

22. Oktober 2025

John Boyne hat sich viel vorgenommen. Das neueste Projekt „Elemente“ des irischen Autors besteht aus vier Geschichten „Wasser“, „Erde“, „Feuer“ und „Luft“. Sie sind durch das Thema Missbrauch miteinander verbunden . Boyne hat sich vorgenommen, in jeder dieser Geschichten einen Aspekt des Missbrauchs zu beleuchten. Entsprechend ändern die Erzählperspektiven von einer „Enablerin“, die den Missbrauch durch Wegschauen erst ermöglicht, über die eines Komplizen und einer Täterin bis zu der eines Opfers.

Schuldig durch Unwissen

Im ersten Band „Wasser“ steht Vanessa Carvin im Mittelpunkt, eine Frau Anfang 50, die durch die Taten ihres Mannes ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt sieht und sich den Folgen durch die Flucht auf eine abgelegene Insel zu entziehen sucht. Mit kurz geschorenen Haaren und neuem Namen will sie sich neu erfinden. Doch in der Einsamkeit der Hütte am Meer drängt sich ihr die Frage auf, ob sie durch Unwissen mitschuldig geworden ist.

Nichts sehen, nichts hören

John Boyne lässt Vanessa ihr Leben an der Seite ihres erfolgreichen Mannes Revue passieren. Brendan, der Schwimmtrainer, ist ein irischer Macho, der Vanessa ins Korsett einer traditionellen, katholischen Familie zwingt. Sie wird Mutter, bekommt zwei Töchter und scheint mit ihrem Hausfrauendasein zufrieden. Kleine Risse in der gutbürgerlichen Fassade übersieht sie, den Hilfeschrei ihrer Tochter Emma  will sie nicht erkennen.  Und so bahnt sich die Katastrophe eher leise an.

Das Element Wasser

Auf der kleinen Insel denkt Vanessa darüber nach, wie es soweit kommen konnte und wie groß ihre eigene Schuld an Brendans Untaten ist. Sie findet im dortigen schwarzen Priester einen Gesprächspartner und im Sohn der Nachbarin einen Liebhaber, der auch zuhören kann. Nur ganz allmählich kann sie sich mit ihrem früheren Ich versöhnen und damit auch mit ihrer jüngeren Tochter Rebecca. Eingeleitet wird dieser Neuanfang durch eine Art Taufe, als Vanessa tief ins kalte Meerwasser eintaucht.  Auch hier verankert Boyne das Element Wasser und  dessen  Zwiespalt. Es kann reinigen, aber auch töten.

Ein anderes Irland

Es steckt viel drin in diesem kurzen, spannenden Roman – auch viel Irland, wie man es eher nicht kennt. Man muss sich an Vanessas eher nüchterne Art gewöhnen – ihr Schutzschild gegen die feindselige Umwelt. Ihre Verletzlichkeit zeigt sich erst im Lauf des Romans, der den Lesenden lange im Unklaren lässt über die Hintergründe von Vanessas Flucht. Man darf gespannt sein auf die nächsten drei Elemente, die Boyne sich vorgenommen hat.

Hineingelesen…

… in Vanessas Wassertaufe

Als ich jetzt am Strand ankomme, ziehe ich meine Schuhe aus. Meine Zehen graben sich in den feuchten, kalten Stand, ein ganz anderes Gefühl als die angenehme Wärme, die ich von tagsüber gewohnt bin. Also laufe ich direkt weiter ins Wasser, eigentlich nur bis zu den Knöcheln, aber dann wirft sich die Flut gegen mich und klatscht wütend an mein Nachthemd, als wollte sie sagen: Fort mir dir, fort! Es ist kalt. Mein Gott, ist es kalt. War es so kalt wie jetzt, als du in Wexford ins Meer gegangen bist, Emma? Bist du direkt eingetaucht, um den Schock zu überwinden, oder hast du langsam einen Schritt vor den anderen gesetzt, den Blick auf den Horizont gerichtet, unsicher, ob du das wirklich durchziehen willst? Und wie weit warst du schon draußen, als du gemerkt hast, dass es kein Zurück mehr gibt, selbst für eine gute Schwimmerin wie dich? Hattest du in dem Moment Panik? Hast du es bereut? Warst du wütend? Erleichtert? Ich habe noch so viele Fragen, mein liebes Kind, und du kannst sie nicht mehr beantworten.
Dafür erinnere ich mich an Rebeccas Frage an mich, nachdem alles rausgekommen war.
Hast du es die ganze Zeit gewusst und nichts unternommen?
Ich tauche bis zum Hals ins Wasser ein, und als mein Körper sich an die Temperatur gewöhnt hat, tauche ich noch tiefer, ganz unter. Die Welt klingt sofort anders. Das hier unten ist ein komplett anderes Universum. Mir fällt ein Lied aus einem alten Disneyfilm ein, den die Mädchen bestimmt hundertmal gesehen haben. Ich öffne die Augen und suche nach Hummern und tanzenden Garnelen, aber ich bin allein, bis auf die mikroskopisch kleinen Lebewesen um mich herum, die sich wundern, warum sie in ihrer Nachtruhe gestört werden. Mir ist nicht mehr kalt, aber sobald ich den Kopfe wieder hinaus in die Welt recke, werde ich sicher frieren. Am liebsten würde ich hier unten bleiben, so wie Emma, und morgen mit der Flut an Land treiben.
Wasser ist mein Verderben. Das Verderben meiner Familie. Wir schwimmen in der Gebärmutter darin. Wir bestehen aus Wasser. Wir trinken es. Wir werden unser Leben lang davon angezogen, mehr als von Bergen, Wüsten und Schluchten. Aber es ist grausam: Wasser tötet.

Info. John Boyne. Wasser, aus dem Englischen von Nicolai von Schweden-Schreiner, Piper, 144 S., 18 Euro

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