Anna Tylers Familienaufstellung
Rezensionen , Romane / 2. Mai 2022

Nein, eine gemeinsame Sache ist diese Familie Garrett, von der Anne Tyler im gleichnamigen Roman erzählt, eher nicht. Das wird schon früh klar, als die Tochter Alice beim Badeurlaub feststellt: „Der Unterschied zwischen dieser Szene und den Szenen in den französischen Gemälden lag darin, dass die Menschen auf den Bildern ei gemeinsamen Unternehmungen dargestellt waren, bei Picknicks oder Bootsfahrten, während hier jeder für sich blieb… Ein Passant hätte niemals gedacht, dass sich die Garretts überhaupt kannten, so allein und weit voneinander entfernt wirkten sie.“ Allein statt gemeinsam Über 60 Jahre Familiengeschichte erzählt Anne  Tyler, von 1959 bis ins Corona-Jahr 2020. Im Zentrum stehen Robin und Mercy und ihre drei Kinder Alice, Lily und David. Nach außen eine glückliche Familie, nach innen voller Konflikte, die nicht ausgesprochen werden. Auch als Mercy aus dem gemeinsamen Heim ausgezogen ist, fragt niemand nach. Alle tun so, als wäre alles wie immer. Und vor allem Robin ist glücklich, dass er nichts erklären muss: „Kein einziges seiner Kinder ahnte, dass Mercy nicht mehr zu Hause wohnte. Das war die größte Errungenschaft in Robins Leben.“ Das Erbe der Eltern Dass die Familienmitglieder nebeneinander her leben, setzt sich fort bei den Kindern und Kindeskindern, die Anne Tyler später…

Der Charme der Unauffälligkeit
Rezensionen / 18. März 2020

Anne Tyler kann meisterhaft von den kleinen Dingen des Alltags erzählen.  Das tut sie auch in ihrem neuen Roman „Der Sinn des Ganzen“: Micah ist kein Traummann, eher einer, den man gern übersieht. Einer, der sich klein macht, der nicht auffallen will. Fast symbolisch lebt er im Souterrain in einer bescheidenen Absteige, die er allerdings pedantisch sauber hält. Seine Tage sind durchstrukturiert. Erstaunlich, dass er trotzdem noch Zeit hat für seine Freundin, Cass, eine Lehrerin. Die beiden passen eigentlich gut zusammen, denn Cass kommt auch bei Micahs Familie gut an. Micahs  Welt gerät in Unordnung Aber dann macht Micah das ganze schöne Arrangement zunichte. Einfach so, weil er nicht richtig zuhört, weil er gedankenlos ist. Cass hat ihm davon berichtet, dass sie womöglich ihre Wohnung verlieren könnte. Und er? Hat keinen Ratschlag, nur leere Worte. Und dann taucht Brink auf, der Sohn von Micahs Jugendliebe, und bringt Micahs geordnete Welt durcheinander und Cass auf die Palme. Die Freundin verlässt ihn, die Familie wundert sich, und Micah wird eine unangenehme Wahrheit bewusst: „Er hatte niemanden.“ Leere Tage und keine Aussicht auf Besserung Brink ist nicht sein Sohn und die Jugendliebe verheiratet. Die Schwestern leben ihr eigenes Leben, und Micahs Tage sind…

Flucht ins Ungewisse
Rezensionen / 10. August 2018

Es ist Anne Tylers 22. Roman und auch in „Launen der Zeit“ spricht die mittlerweile 76-jährige Chronistin des amerikanischen Mittelstands aus jeder Zeile. Wieder einmal geht es um schwierige Familienverhältnisse und die Flucht daraus. Schuldgefühle seit der Kindheit Das Leben der Hauptfigur Willa Drake erzählt Tyler in vier Episoden, die sie zwischen 1967 – da ist Willa elf – und 2017 ansiedelt. Willa ist nett und unauffällig, hilfsbereit und voller Schuldgefühle. Die hat sie seit ihrer Kindheit, die geprägt war durch die häufige Abwesenheit der Mutter und die Unzulänglichkeit des allzu sanftmütigen Vaters. Ein alltägliches Leben Derek, der Ehemann ist ganz anders, ein Machotyp, der Willa dominiert. Sie bricht ihr Studium ab, zieht nach Kalifornien und wird Mutter zweier Söhne. Ein ganz und gar alltägliches Leben, bis Derek durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird und Willa mit einem neuen Schuldkomplex zurücklässt. Auch dem zweiten Ehemann, Peter, fällt es leicht, diese von Selbstzweifeln geplagte Frau zu dominieren. In einer Golfsiedlung in Tuscon Arizona wird der Lebensabend geplant, auch wenn Willa nicht golfen kann, weil sie einfach unsportlich ist. Flucht aus dem Golf-Getto Doch dann tut sich per Zufall ein Hintertürchen auf, das dieser unterschätzten Hausfrau die Flucht aus dem…