Luca d’Andrea: Südtiroler Abgründe
Rezensionen / 8. Oktober 2019

„Meine Hauptinspirationsquelle sind meine Mitmenschen“, sagt der in Bozen geborene Thriller-Autor Luca d‘Andrea, der wie kein anderer Südtiroler Abgründe auslotet. Auch in seinem neuen Roman „Der Wanderer“ konfrontiert der Erfolgsautor die Leser mit dörflicher Beschränktheit, Liebe, Hass und Wahnsinn. Es geht um Mütter und Töchter, Väter und Söhne, gestörte Familien und skrupellos zementierte Machtverhältnisse. Alles andere als ein Bilderbuchsee Vor allem aber geht es um eine junge Frau, die vor langer Zeit  ermordet an einem abgelegenen Bergsee gefunden wurde und deren Tod nie aufgeklärt wurde.  „Es war kein Bilderbuchsee. Kein Vergleich mit den Alpenseen, die der Traum eines jeden Fotografen waren. Der See von Kreuzwirt war alles andere als eine Augenweide. Er ähnelte eher einem Tümpel mit ausgefransten Rändern. Als wenn Gott an dem Tage, an dem er ihn schuf, in Eile gewesen wäre.“ Scheinbare Idylle Ein Foto, das sie im Briefkasten findet, ruft der Tochter Sybille die tote Mutter ins Gedächtnis und lässt ihr keine Ruhe mehr. Zusammen mit dem Schriftsteller und damaligen Lokaljournalisten Tony versucht sie herauszufinden, was wirklich geschehen ist mit der „narrischen Erika“, wie die Dörfler die Frau nannten, die aus Tarotkarten die Zukunft las und die so gar nicht in die verschworene Gemeinschaft des nur…

Abstieg in die Unterwelt
Rezensionen / 8. Oktober 2019

„Seit jeher vertrauen wir dem Unterland an, was wir fürchten und loswerden wollen und was wir lieben und bewahren wollen“, stellt Robert MacFarlane im Eingangskapitel zu seinem großartigen Buch „Im Unterland“ fest. In drei „Kammern“ nimmt der ausgezeichnete Literaturwissenschaftler und Naturschriftsteller die Leser mit auf die Reise in unterirdische Gefilde. Reise über drei Kammern ins Unterland Zunächst in seiner Heimat Großbritannien in stillgelegte Bergwerke, zu Forschern, die sich mit der dunklen Materie beschäftigen, und ins Unterholz, zum Netzwerk von Bäumen und Pflanzen. Dann in Europa zu unterirdischen Städten, zu den Katakomben von Paris, in die Kanalisation, wo Obdachlose hausen und in slowenische Abgründe der Partisanenzeit. Die dritte Kammer schließlich ist dem Norden vorbehalten: den Höhlen aus der Urzeit, dem Kampf gegen die Ölbohrungen in Naturschutzgebieten, dem schmelzenden grönländischen Eis, den Grabkammern radioaktiver Abfälle auf der finnischen Insel Olkiluoto. Die Hinterlassenschaften unserer Zivilisation MacFarlane, eigentlich ein begeisterter Höhenbergsteiger, hat sich körperlich und seelisch viel zugemutet, um die Leser teilhaben zu lassen an seinen Exkursionen in die Unterwelt, die hin und wieder tatsächlich an die biblische Hölle erinnert. Er ist hinabgestiegen in enge Räume, die ihm die Luft zum Atmen nahmen, hat sich im Norden dem Wüten der Natur ausgesetzt und ist…

Mark Brandenburg: Wandern im Heute
Rezensionen / 27. August 2019

Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg umfassen fünf Bände. Für seine Wanderungen auf den Spuren Fontanes unter dem Titel „Heut ist irgendwie ein komischer Tag“ hat Cornelius Pollmer gerade mal 235 Seiten gebraucht. „Fontane reloaded“, wie es der Buchumschlag suggeriert, ist also ein bisschen hoch gegriffen. Der junge Journalist hat auch nicht Schlösser und Kirchen beschrieben oder sich dem kulturhistorischen Hintergrund gewidmet. Ihn interessierte nicht das Gestern, sondern das Heute. Originale und Landjugend Und da waren es vor allem die Menschen, die Pollmer faszinierten. Ausgiebig beschreibt er Originale wie Schniepa, den unentwegt quasselnden und organisierenden Truck-Kapitän, oder Krafft Freiherr von Knesebeck, einen Wessi mit erstaunlichem „Regionalimperium“, zu dem auch ein Hundehotel gehört. Und dann natürlich die Landjugend um Troppi, die feste feiern kann und sich auch im Suff noch der Heimat verbunden fühlt. Sommerleichte Aufzeichnungen „Das Geschehen auf Wanderungen kann ein ganz und gar innerliches sein, eine Instrospektion zu allen möglichen Fragen des Lebens,“ schreibt Pollmer zwischendrin, „So wandert man äußerlich durch die Gegend und innerlich durch sich selbst und alles schwingt in einem idealerweise sommerleichten Gefüge.“ Sommerleicht sind auch seine Aufzeichnungen, manchmal vielleicht ein bisschen zu leicht oder eher rotzig, wenn die Sonne „so erbarmungslos feuert, dass allen langsam,…

Das alte Haus im Wedding
Rezensionen / 16. April 2019

Es ist ein altes Haus, dem der baldige Abbruch droht. Vor 120 Jahren wurde das Haus in der Utrechter Straße im Berliner Wedding gebaut. In dieser Zeit hat es viel erlebt, und davon berichtet es gleich zu Anfang des neuen Romans von Regina Scheer „Gott wohnt im Wedding“.  Auch in mehreren Zwischenkapiteln kommt das Haus zu Wort, liefert sozusagen eine Gesamtschau der Schicksale, deren verästelte Lebenslinien Regina Scheer nachzeichnet. Das Haus verbindet die alten und die neuen Schicksale Da ist Leo Lehmann, der mit seiner Enkelin Nira aus Israel gekommen ist, um das Erbe seiner Familie zu regeln, und der zufällig das Haus wieder entdeckt, das schicksalhaft mit seinem Überleben verbunden war. Und da ist die alte Gertrud, die im Haus geboren wurde und die dem jungen Leo und seinem Freund Manfred beim Untertauchen half – und aufflog. Mit Manfred starb die Liebe ihres Lebens. Gertrud soll ausziehen wie alle anderen im Haus, das ein Investor gekauft hat und „entmieten“ will. Hätte sie nicht Laila, die kluge und hilfsbereite Sintiza, oder Stephan, den Studenten aus der WG, wäre sie ganz vereinsamt. Aber das Haus verbindet die alten und die neuen Schicksale, die Juden und die Sintis, die Jungen und die Alten….

Das Leben ist (k)ein Film
Rezensionen / 13. September 2018

„Der Strand hatte sich inzwischen gefüllt. Bald würden wir wieder nach Hause fahren, müde vom frühen Aufstehen, von der Sonne, dem Meer. Der schönsten und sattesten Müdigkeit, die es gab. Noch Sand zwischen den Zehen und in den Haaren, Salz auf der Haut, quetschten wir uns alle wieder ins Auto, die Autotüren schlugen zu, und wir fuhren von der jetzt voll geparkten Koppel, als wäre alles ein Super-8-Film, den man rückwärts laufen ließ.“ Der Rückwärtslauf war besser als Dick und Doof  Nein, ein Super-8-Film war das Leben im ländlichen Schallerup, das Anne Müller in ihrem Debüt „Sommer in Super 8“ beschreibt, trotz solcher Erinnerungen nicht. Es sind die 1970er Jahre, die ersten Menschen landen auf dem Mond, die Kinder tragen im Sommer kurze Hosen, die Sängerin Alexandra stirbt bei einem Unfall und der Vater, ein Landarzt, filmt seine Familie in Super-8. Bei den Filmvorführungen im kleinen Kreis ist der Rückwärtslauf immer das Highlight, besser als Dick und Doof. Der Vater liebt die Augsburger Puppenkiste – und den Alkohol. Bullerbü ist in Schallerup nur Fassade Bullerbü ist in Schallerup nur Fassade, dahinter verbirgt sich eine Lebenslüge mit dramatischen Folgen. Auch die Welt draußen ist nicht heil: Das Olympia-Attentat, bei dem elf…

Mutmacher für Väter
Rezensionen / 13. Januar 2018

„Unser Alltag besteht aus verpassten Umarmungen. Aber im Grunde ist das alles nur Taktik, damit die unerwarteten Umarmungen dann umso schöner sind.“ Matteo Bussola hat sich eingerichtet im Vater- und Ehemann-Sein. Der studierte Architekt hat drei Töchter – Virginia, Ginevra und Melania – und verdient inzwischen sein Geld als Comic-Zeichner.  Die kleinen Mädchen sind neugierig, frech und trotz aller Einschränkungen, die drei Kinder für die Partnerschaft bedeuten, Vaters Lieblinge. Warum das so ist, hat Bussola auf Facebook dokumentiert und mit seinen Alltags-Posts jede Menge Menschen begeistert. Denn die drei kapriziösen Persönchen haben ihre ganz eigenen Ansichten vom Leben, von der Liebe und vom Jenseits. Dass Erwachsene der kindlichen Logik nur wenig entgegenzusetzen haben, schildert Bussola  in vielen kleinen Episoden – manche eher banal, andere witzig, die meisten anrührend.  Der Italiener hat viel gelernt von seinen Töchtern – auch über sich selbst. Er hat gelernt, früh aufzustehen, um wenigstens ein paar Stunden Zeit für sich und seinen Job zu haben. Er hat gelernt, sein Bett nicht nur mit einer Frau, sondern hin und wieder auch deren mehreren zu teilen. Er hat gelernt, auch auf die skurrilsten Fragen Antworten zu finden. Und er bewundert seine Töchter, die für ihn kleine Philosophinnen sind,…