Der andere Tell
Rezensionen , Romane / 28. Februar 2022

Ui, da hat Joachim B. Schmidt den Schweizer Nationalhelden Tell ganz schön zerzaust. Ein armer Bergbauer ist sein Tell, der so gar nichts von Schillers Heldenmut hat. Erzählt wird die Anti-Heldengeschichte von einem Chor von Zeitzeugen. Darunter auch von Walter, dem Sohn, dem Wilhelm Tell auf Befehl des habsburgischen Reichsvogts Gessler den Apfel vom Kopf schießen muss. Desolate Lebensverhältnisse Der Schweizer Schmidt nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er seine Erzähler die desolaten Lebensverhältnisse der Bauern beschreiben lässt, die Kleingeistigkeit in den engen Tälern. Nichts da von politischer Aufmüpfigkeit oder einem „einig Volk von Brüdern“. Nur ein täglicher Kampf ums nackte Leben und gegen eine Diktatur, die selbst die armseligste Existenz durch immer neue Schikanen bedroht. Der Gegenspieler von Tell Ja, auch der Gesslerhut spielt seine Rolle, aufgesteckt, um das dumpfe Bauernvolk Mores zu lehren. Der Harras hatte die Idee, Gesslers Sicherheitschef. Ein bösartiger Intrigrant ist das bei Schmidt und ein gemeiner Leuteschinder. Die Bauern verachtet er genauso wie den Reichsvogt, seiner Meinung nach ein verweichlichtes Bürschlein. Schmidt macht ihn zum eigentlichen Übeltäter und damit zum Gegenspieler Tells. Harras verkörpert die dunkle Seite der Macht, ein echter Kotzbrocken. Schwacher Reichsvogt Im Gegensatz zu ihm ist Schmidts Gessler durchaus zu…

Entzauberter Heldenmythos
Rezensionen / 17. September 2020

Natürlich kennt auch Charles Lewinsky die ruhmreichen Eidgenossen aus Schillers „Wilhelm Tell“. Doch der Schweizer Autor will nichts vom Heldenmythos wissen. In seinem Roman „Der Halbbart“ lässt er einen elfjährigen Knaben vom Kampf der Eidgenossen gegen die Habsburger erzählen – aus dem Blickwinkel der kleinen Leute. Geschichte und Geschichten Die Welt des jungen Sebi, der mit den ungleichen Brüdern Poli und Geni aufwächst, ist geprägt von Tod und Teufel – und von der Macht des Klosters Einsiedeln. Anfang des 14. Jahrhunderts stritten die Schwyzer im „Marchenstreit“ mit dem unter dem Schutz der Habsburger stehen Kloster über die Nutzung von Wald- und Weideflächen. Am Dreikönigstag unternahmen sie einen folgenschweren Überfall, der später zur Schlacht am Morgarten führte. Auch die ein Mythos in der Schweizer Geschichte. Doch Charles Lewinsky geht nicht der bekannten Geschichte auf den Leim, ihm geht es ums Geschichtenerzählen. Himmel und Hölle Und das kann der Sebi, der sonst zu wenig taugt. Ist er doch beim Teufels-Anneli, der wandernden Märchentante, in die Lehre gegangen, nachdem er aus dem Kloster geflohen war. Denn eine Kindsleiche beseitigen, wie der Abt es ihm befohlen hat, das wollte der Sebi denn doch nicht. Lieber gräbt er dem kleinen Leichnam im Wald ein Grab,…