Verlorene Hoffnung

1. November 2021

Bernhard Schlink  war Professor für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und juristischer Ratgeber in der Wendezeit. Doch bekannt wurde der 1944 geborene Jurist als Schriftsteller mit dem 1995 erschienenen Roman „Der Vorleser“. Der Film mit Ralph Fiennes und Kate Winslet brachte Bernhard Schlink weltweite Bekanntschaft ein. Als Auto bleibt die deutsche Geschichte sein großes Thema. Das gilt nicht nur für sein erst kürzlich veröffentlichtes Theaterstück „20. Juli“, sondern auch für den neuen Roman „Die Enkelin“.

Die Vertraute wird zur Fremden

Im Mittelpunkt steht der Berliner Buchhändler Kaspar, der vor kurzem seine Frau Birgit verloren hat. In seiner Trauer sucht Kaspar nach Gründen für ihren Freitod und die Alkoholsucht. Er findet autobiographische Skizzen, die ihm eine Birgit vorführen, die er nicht kannte. Eine Frau, die an ihrer großen Lebenslüge zerbricht. Birgit ist zwar Kaspars wegen in den Westen geflohen, aber sie hat ihr – unwillkommenes – Baby im Osten zurückgelassen. Obwohl sie es sich immer wieder vornahm, hat sie sich nie darum gekümmert, was aus dem Mädchen geworden ist.

Heimat in der völkischen Gemeinschaft

Das übernimmt nun Kaspar, er macht sich im deutschen Osten auf die Suche nach der verlorenen Tochter. Was er findet, sind entleerte Landschaften und neue Nazis. Auch Birgits Tochter Svenja hat nach rebellischen Jahren ihre Heimat in einer „völkischen Gemeinschaft“ und bei einem überzeugten Neonazi gefunden. Sigrun, ihre 14-jährige Tochter, träumt von der nationalen Wiederauferstehung, erweist sich aber auch als sensibel für Musik und Literatur.

Das Versagen des Möchtegern-Großvaters

Hier sieht Kaspar seine Aufgabe. Er will die Enkelin aufklären, Bildung vermitteln und lädt sie deshalb zu sich nach Berlin ein. Der Möchtegern-Großvater ist ein naiver Gutmensch. Als Seelenretter muss er versagen. Was sich anfangs gut anlässt, endet in einem Fiasko. Sigrun verlässt ihre Familie und wendet sich einem aggressiven Zweig der rechten Bewegung zu. Erst ein Mord bringt sie zum Nachdenken und zurück zum „Großvater“. Er verhilft ihr mit Geld zur Flucht. Ob sie es in ein neues Leben schafft, bleibt offen.

Gescheiterte Aufklärung

Bernhard Schlink hat sich wohl einen großen Roman über die Zusammenhänge zwischen Diktatur und Rechtspopulismus vorgenommen – und sich daran überhoben. Zu blutarm sind die Figuren, zu hölzern die Dialoge, zu überfrachtet das Ganze. Und dass die Perspektiven wechseln, merkt man dem Stil kaum an. Der Schriftsteller Schlink wollte aufklären wie Kaspar – und ist daran gescheitert wie sein Alter Ego im Roman. Eigentlich schade.

Hineingelesen…

… in Kaspars Lektüre

Er las, was er über Rechte, alte und neue Nazis, NPD und AfD, Autonome Nationalisten, Identitäre, Aramanen, Völkische, ihre Siedlungen und nationalbefreite Zonen, ihre Frauen- und Jugendorganisationen fand. Es war eine deprimierende Lektüre, er hatte nicht geahnt,wie weit sie verbreitet waren, wie beweglich sie sich den Zeitströmungen anpassten, wie stark sie von der Mittelschicht getragen wurden und wie präsent in den Jugendorganisationen die Kinder von Ärzten und Rechtsanwälten, Lehrern und Professoren waren. Auf der Suche nach Literatur nicht über Rechte, sondern von Rechten stellte er erstaunt fest, dass weder die Bundesanstalt für politische Bildung noch der Verfassungsschutz sie sammelt. Die einzige Einrichtung, die sich für sie interessierte, war eine kleine antifaschistische Initiative in Kreuzberg. Was sie hatte, war zufällig und lückenhaft. Die von der Jugend für die Jugend geschriebenen Blätter enthielten Berichtet über Treffen und über Fahrten, oft nach Ostpreußen, Pommern und Schlesien, Gedanken über das Reich als Geschichte und Auftrag, das Leben als Wagnis, die bündische Jugend und den organischen Staat, Gedichte über Volk und Boden, Empfehlungen rechter Bücher und rechter Filme. Immer wieder ging es um das Erlebnis von Gemeinschaft und zugleich die Ablehnung der Anderen, der Fremden, die nicht dazugehören. Blieb die Gesellschaft der Jugend ein positives Erlebnis von Gemeinschaft schuldig? Was hätte er Sigrun als bessere Alternative zu ihren Lagern, ihren Abenteuern, ihrem Wettstreit, ihre Verantwortung als Führerin vorschlagen können.

Info Bernhard Schlink, Die Enkelin, 376 S., 25 Euro

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