Vor der Dunkelheit

22. Juli 2017

Unsere Gesellschaft wird älter und muss sich eingestehen, dass manche Vorurteile überholt sind. Zum Beispiel, dass alte Leute mit einem Leben am Rand der Gesellschaft zufrieden sind, dass es ihnen genügt, ihre Enkelkinder auf den Knien zu schaukeln. Dass Liebe und Sex endgültig vorbei sind. Die Realität sieht anders aus: Politiker bleiben bis ins hohe Alter aktiv, Kleriker kommen erst ab einem gewissen Alter zu Papst-Ehren und selbst der Normalbürger mischt sich auch als Rentner noch ein. Und selbst die Liebe macht nicht halt vor dem Alter. Aber noch immer grenzt es an ein Tabu, wenn alte Leute sich zusammen und womöglich „es“ tun. Das Unsagbare „in ihrem Alter“!

Zwei einsame Alte finden zusammen

Kent Haruf hat darüber ein ebenso berührendes wie nachdenklich machendes Buch geschrieben. „Unsere Seelen bei Nacht“ erzählt davon, wie sich zwei einsame Alte zusammenfinden und wie die Gesellschaft alles tut, um sie wieder auseinander zu bringen. Was in der Kleinstadt in Colorado geschieht, könnte ebenso in einem Allgäuer Dorf passieren. Da, wo jede jeden kennt, wo die Fenster Augen und die Türen Ohren haben. Dabei ist die Idee der 70-jährigen Witwe Addie ganz sympathisch. Sie fragt ihren ebenfalls alleinlebenden Nachbarn Louis, ob er nicht ab und zu mal bei ihr die Nacht verbringen wolle.

Den anderen ist die Beziehung ein Dorn im Auge

Addie denkt nicht an Sex, sondern nur daran, dass sie zusammen gegen die Einsamkeit ankämpfen, sich gegenseitig ihr Leben erzählen könnten. Das tun die beiden dann auch, und noch bevor sie sich ineinander verlieben, keimt Missgunst auf. Den Nachbarn ist die nächtliche Beziehung ein Dorn im Auge, und es kommt, wie es kommen musste: Auch die Kinder wenden sich gegen die (peinlichen) Eltern. Nicht nur aus moralischen Gründen, sie haben auch Angst um ihr Erbe.

Der Roman geht unter die Haut

Kent Haruf, der bis zu seinem Tod 2014, immer wieder seine Geschichten in der fiktiven Kleinstadt Holt angesiedelt hat, kennt sich aus in diesem Milieu. Das zeigt auch dieser, sein letzter, Roman. Die Sprache ist einfach, mehr Dialog als Beschreibung, und doch geht der Roman unter die Haut. Vom ersten Satz an: „Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte. Es war an einem Abend im Mai, kurz bevor es endgültig dunkel wurde.“ Da steckt schon alles drin.
„Unsere Seelen bei Nacht“ wurde mit Robert Redford (auch Koproduzent) und Jane Fonda durch Netflix in Colorado und Florenz verfilmt.
Info: Kent Haruf. Unsere Seelen bei Nacht, Diogenes, 197 S., 20 Euro

 

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