Das Ende eines Lebens
Rezensionen / 14. Juli 2017

Am 14. Juli 2016, vor einem Jahr, starb Péter Esterházy, da war der studierte Mathematiker und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 66 Jahre alt. Das Ende seines Lebens hat der ungarische Autor in einem „Bauchspeicheldrüsentagebuch“ verarbeitet, das teilweise verstörend ehrlich die mit seiner Krebserkrankung einhergehenden Veränderungen seines Körpers und seines Alltags schildert. Die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs trifft ihn völlig unerwartet. Am 24. Mai 2015 beginnt er sein Tagebuch. Die Drüse drängt sich ihm auf wie eine verschmähte Geliebte Es ist der Versuch, mit den Mitteln der Sprache die Hoheit über sein Leben zurückzugewinnen. „Ich versuchte, versuche, das Unheil am Schlafittchen zu packen. Es unter das Joch der Sätze zu zwingen,“ schreibt er im ersten Eintrag. Er berichtet über sich, die Krankheit, die Familie, das Leben. Er isst, was ihm schmeckt, liest, was ihn tröstet, fragt nach, was ihm fehlt und beschäftigt sich intensiv mit dem Organ, das sein Leben bedroht. Die bislang unbeachtete Drüse drängt sich ihm auf wie ein unwillkommene Geliebte. Mutzi nennt er sie, Bauchspeichelchen, B., wenn er mit ihr streitet und manchmal auch flirtet. Ist sie doch ganz und gar die seine – bis zum Tod. Sie ärgert ihn nicht wie die Freunde oder Bekannten, die ihn aufzumuntern versuchen…

Zum Tod von Peter Härtling
Rezensionen / 10. Juli 2017

Er war ein stiller Mensch,  aber er konnte auch laut werden, wenn er Ungerechtigkeit erlebte. Peter Härtling, selbst ein Flüchtlingsjunge,  hat sich mit dem Roman „Djadi, Flüchtlingsjunge“ verabschiedet. Es war sein letztes Buch, ein literarischer Nachlass.  Jetzt ist der 1933 in Chemnitz geborene Härtling, der im mährischen Olmütz aufwuchs und mit der Mutter nach Nürtingen kam, tot.  Doch seine Bücher leben weiter und erzählen vom Schicksal der Geflüchteten aller Nationen.  Härtling, der die Vergewaltigung der Mutter erlebt und ihren Selbstmord überlebt hat, konnte sich einfühlen in die Flüchtlinge von heute, in das Leid der Kinder.  Und er mischte sich ein, war aktiv in der Friedensbewegung und engagierte sich im Umweltschutz.  Die Bilder vom aktuellen Flüchtlingselend entsetzten ihn.  Hier meine Besprechung seines letzten Buches: Angepasst an die neue Heimat – und dann? Der zehnjährige Flüchtlingsjunge Djadi kommt mutterseelenallein nach Deutschland und wird von einer Alten-WG aufgenommen. Vor allem den Mann, der ihn „gefunden“ hat, und seine Frau werden zu Djadis Ersatzeltern. Aber auch die anderen kümmern sich um den eltern- und heimatlosen Jungen. Nur das Jugendamt macht erst einmal Schwierigkeiten wegen der eher ungewöhnlichen Lebensverhältnisse. Aber allmählich findet sich Djadi zurecht, passt sich an. Anders geht es ja nicht in unserem…

Im Putin-Land
Rezensionen / 12. Juni 2017

Er wollte nicht dahin, wohin der Lonely Planet Abenteuerreisende schickt, und schon gar nicht dahin, wo es die Touristenmassen hinzieht. Stephan Orth sucht „die Anti-Ästhetik von einem Ausmaß, dass einem die Sinne schwinden“. Auf der Suche nach Hässlichkeit mit Wow-Effekt Er will Reisen als Thriller, Hässlichkeit mit Wow-Effekt. Und davon findet er jede Menge als Couchsurfer in Russland. Nicht nur gleich am Anfang in der Mine von Mirny, dem „Arschloch der Welt“, auch unterwegs in den Weiten des Landes zwischen Kaukasus und Sibirien. Zehn Wochen lang bereist er Russland, lässt sich auf den Alltag der Menschen ein, versucht, dem Phänomen Putin auf die Spur zu kommen und schont sich nicht. Der Autor lässt sich von der russischen Seele rühren Er macht alles mit, trifft wilde Kerle und schöne Frauen, schläft mal auf dem Boden, mal im Zelt, mal in einer Datsche ganz für sich allein, pendelt vom muslimisch geprägten Dagestan ins buddhistische Kalmückien, kommt dem „Jesus Sibiriens“, Wissarion, in seiner Sonnenstadt nahe, reist von der Krim nach St. Petersburg, lässt sich im Mariinskij-Theater von „Schwanensee“ rühren und von der russischen Seele und nimmt unter anderem diese Erkenntnis mit: „Mit dem Satz ‚Das ist Russland‘ lassen sich viele Sachverhalte erklären, für…

Zerrissene Gesellschaft
Rezensionen / 2. Juni 2017

Sie hat immer wieder aktuelle Probleme angepackt und gezeigt, welche Abgründe sich hinter manch einer heilen Fassade verbergen können. Kein Wunder, kannte Viveca Sten doch aus ihrer Zeit als Chefjuristin bei der dänischen und schwedischen Post so manche Kniffe, wie sich Beschuldigte aus der Affäre ziehen. Im neuesten Krimi, der wie alle anderen auf ihrer Lieblingsinsel Sandhamn spielt, zieht Sten wieder alle Register ihres Könnens und hält die Spannung bis zum Ende aufrecht, das diesmal sogar versierte Krimi-Leser überrascht. Im Segelcamp mobben die Größeren den Kleineren  Ihr sympathischer Kommissar Thomas Andreasson hat es im achten Roman der Sten-Krimis mit einem besonders fiesen Fall zu tun. Aus einem Segelcamp ist ein kleiner Junge verschwunden. Thomas erfährt, dass der eher schüchterne Benjamin schon im Lager von größeren Jungs gemobbt und gedemütigt wurde. Ist er davongelaufen und womöglich ertrunken? Oder wurde er entführt? Von einem Pädophilen, der sich in der Gegend herumtreibt? Von einem Erpresser? Für den Kommissar, der auch mit privaten Problemen zu kämpfen hat, die mit seiner Rückkehr zur Polizei zu tun haben, beginnt ein Rennen mit der Zeit. Was er nicht ahnt, ist, dass seine Jugendfreundin Nora, die kurz vor ihrer Hochzeit steht, einen Betrugsfall verhandelt, in den der Vater…

Brunetti hat einen Burnout
Rezensionen / 2. Juni 2017

Er ist sicher einer der bekanntesten Kommissare. Gäbe es ihn wirklich, Guido Brunetti könnte ein Dienstjubiläum feiern. Denn seit 1992 versucht der sympathische Commissario nimmermüde in der Questura von Venedig Heuchlern und Verbrechern das Handwerk zu legen. Pädophile und Sex-Touristen hat er ebenso aufgespürt wie mafiöse Verstrickungen von Immobilienhaien oder Giftmüllskandale aufgeklärt. Und dabei (fast) den Glauben an die Menschheit verloren. Alltagsfrust  Denn Urheber vieler Verbrechen oder Skandale sind oft angesehene Bürger der Stadt. Und die meisten kommen am Ende dank ebenso findiger wie skrupelloser Anwälte ungeschoren davon. Hinzu kommt die oft frustrierende Zusammenarbeit mit dem Vorgesetzten, Vize-Questore Patta. Ohne die hilfreiche Präsenz der charmanten und klugen Signorina Ellettra und das meist heile Familienlieben wäre soviel Alltagsfrust unerträglich. Auszeit in der Lagune  Kein Wunder also, dass Brunetti nach 25 Jahren einen Zusammenbruch hat. Der ist zwar vorgetäuscht, um einen Kollegen vor einem falschen Schritt zu bewahren. Aber der Commissario merkt schon im Krankenhaus, dass tatsächlich eine Auszeit braucht. Die findet er auf einer kleinen Insel in der Lagune, wo eine Tante seiner Frau ein Anwesen hat. Der wortkarge Verwalter stellt sich als alter Freund von Brunettis Vater heraus, er ist Hobby-Imker und nimmt den Kommissar mit auf seine Streifzüge durch…

Verdienter Hinterhalt
Rezensionen / 13. Mai 2017

Es fängt alles ganz banal an: Ein alter Sack und eine ebenso alte Dame kommen über eine Dating Plattform zusammen. Roy, Typ zauseliger Misanthrop, lässt von Anfang an nichts Gutes ahnen. Da kann einem die nette, scheinbar ahnungslose Betty schon leid tun. Eine Achterbahn der Gefühle Doch dann nimmt die Geschichte Fahrt auf, und Nicholas Searle katapultiert die Leser in seinem Debüt-Roman auf eine Achterbahn der Gefühle. Wobei sie der ehemalige Lehrer und Mitarbeiter des neuseeländischen Geheimdienstes lange an der Nase herumführt. In raschen Perspektivwechseln wird mal Roys krimineller Hintergrund enthüllt, mal Bettys biederes Leben dargestellt. Rückreise in dunkle Zeiten  Immer schneller geht es rückwärts in der Zeit, und allmählich dämmert selbst dem naivsten Leser, dass er einer klugen Inszenierung auf den Leim gegangen ist. Denn nichts ist so wie es scheint, nicht einmal auf die Namen ist Verlass. Alles, was sich jetzt ereignet, wäre nicht möglich ohne die Anfänge im Jahr 1938. In der Nazi-Zeit wurde der Samen gelegt für das, was später passiert. Als das Alte Böse noch jung war Damals war „Das alte Böse“, so der Buchtitel, noch jung. Und doch schon spürbar. Ein Junge, selbstverliebt und skrupellos, reift zum Mann, der über Leichen geht. Die Demaskierung…

Ein Neuanfang ist möglich
Rezensionen / 13. Mai 2017

Ein Mann muss seinen Hund einschläfern lassen und lernt seine Frau, der er sich über die Zeit entfremdet hat, von einer neuen Seite kennen. Eine junge Frau verliert ihre Tasche mit fremdem Geld und macht sich auf die Suche nach dem seltsamen Finder. Ein junger Mann kommt über seine extravaganten Nachbarn der Öde des eigenen Lebens auf die Spur und der Möglichkeit einer Änderung. „Ab morgen wird alles anders“ heißt die neue Sammlung von fünf Erzählungen im ganz eigenen Gavalda-Sound. Wer ändert schon sein Leben mittendrin? Ach, wie oft hat man das selbst schon gedacht – folgenlos. Wer ändert schon sein Leben, mittendrin und ganz ohne Anlass? Anna Gavaldas Protagonisten finden einen Anlass, und sie tun das, was wir uns oft wünschen: Sie brechen noch einmal auf. Das junge Mädchen erkennt nach dem Verlust ihrer Tasche die Oberflächlichkeit ihres Daseins, die Lächerlichkeit ihrer Sehnsüchte. Der merkwürdige Finder, ein Koch, erscheint ihr zunächst suspekt aber mit größerem Abstand auch als Ausweg aus der alltäglichen Misere. Normal wie diese Mathilde sind auch die anderen Protagonisten, Menschen wie du und ich. Ihr Leben verläuft ohne große Katastrophen, aber eben auch ohne Glücksgefühle. Normalos, die plötzlich aufwachen Gavalda beschreibt die Wendungen nicht als dramatische Entscheidung…

Komplexes Lebens-Puzzle
Rezensionen / 4. Mai 2017

Jonas Hassen Khemiri, 1978 als Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter in Stockholm geboren, gilt als die zornige Stimme der Vororte und als Star der schwedischen Literaturszene. Sein Debütroman, „Das Kamel ohne Höcker“ (2003), brachte ihm internationale Anerkennung ein. „Alles, was ich nicht erinnere“, sein vierter Roman, wurde mit dem August-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis. Auch in diesem Roman leiht er den Vororten seine Stimme, den Menschen am Rand der Gesellschaft. Ungeordnete Erinnerungsfetzen Der Inhalt ist schnell erzählt: Der 27-jährige Samuel, der in einer Migrationsbehörde arbeitet, fährt den alten Opel seiner Oma gegen einen Baum. Unfall oder Selbstmord? Ein Autor – am Ende des Buches erfährt man mehr über diese Figur – versucht zu verstehen, was passiert ist und Samuels Leben und Persönlichkeit aus ungeordneten Erinnerungsfetzen seiner Freunde und Verwandten zusammenzusetzen. In oft nur fragmentarischen Statements berichten die unterschiedlichsten Ich-Erzähler über ihre Erfahrungen mit dem jungen Mann. Für den Leser ist es kompliziert, die einzelnen Puzzleteile den jeweiligen Personen zuzuordnen, denn Khemiri hält sich auch nicht an eine zeitliche Abfolge. Am Ende ein Scherbenhaufen So bleibt es dem Leser überlassen, die oft widersprüchlichen Einzelteile zum Ganzen zusammenzufügen. Ein Ganzes, das eine brüchige Welt offenbart. Unter den Stimmen…

Adel verpflichtet
Rezensionen / 28. April 2017

Das waren noch Zeiten, als die deutschen Herrschaften in Ostpreußen auf ihren Gütern noch regieren konnten wie kleine Herrscher. Die Dame des Hauses musste sich nur um die Organisation des Haushalts kümmern und manchmal vielleicht auch mit der Mamsell, der Hausdame, darüber streiten, wer das letzte Wort hat. Und natürlich Feste planen, bei denen die Freunde und Nachbarn zusammenkamen und man schauen konnte, ob die Kinder nicht zusammenpassen könnten. Spätere Heirat nicht ausgeschlossen. Solange man unter sich blieb. Adel verpflichtet schließlich. Die mittellose Tochter muss unter die Haube Das bekommt auch Frederike zu spüren, die durchaus ein Gefühl für Gerechtigkeit entwickelt hat und einen Blick dafür, dass die Freuden der Gutsbesitzer manchmal mit der Ausbeutung der Dienerschaft erkauft sind. Trotzdem: An Auflehnung denkt das junge Mädchen auch dann nicht, als die Schwester wegen eines Techtelmechtels mit dem Sohn des Kutschers zu einer gestrengen Tante exiliert wird. Die Mutter hatte nach dem Tod ihres Vaters zwei Mal wieder geheiratet. Der aktuelle Stiefvater war der Bruder des verstorbenen Stiefvaters, und Frederike hat kein Erbe zu erwarten. Manchmal hat sie Angst, sie könnte zu einem Dasein als alte Jungfer verurteilt sein wie die unverheiratete Schwester ihres Stiefvaters, die ebenfalls auf dem Gut lebt….

Vom Terror der Ereignislosigkeit
Rezensionen / 28. April 2017

Seine Reisebücher waren immer Ereignisse, denn Andreas Altmann ist ein Autor, der sich und anderen nichts schenkt. Aber auch einer, der um Worte nicht verlegen ist, der sagen kann, was er denkt, weil er die Sprache beherrscht. Nach „Gebrauchsanweisung für die Welt“ hat Altmann sich nun an einer „Gebrauchsanweisung für das Leben“ versucht. Radikale Denkanstösse Natürlich kann auch der Weitgereiste keine Antworten auf existenzielle Fragen geben, aber er kann Denkanstöße liefern. Auch da ist Altmann radikal. Die Aufforderung aus dem Film Creed an einen jungen Boxer „Du sollst nicht fügsam sein, du sollst leben“ könnte auch von ihm stammen. Schließlich ist ihm nichts so verhasst wie Fügsamkeit, Gehorsam, der „Ranz der Routine“ oder auch der „Terror der Ereignislosigkeit“. Nein, ein Rezept fürs Leben hat auch Altmann nicht, er kann nur gelungene Leben präsentieren, kann zeigen, wie lebensmutig so mancher Krüppel ist und wie halbtot so mancher Handy-Sklave. Ringen um ein erfülltes Dasein Manche der erzählten Episoden sind hinreißend in ihrer oft entlarvenden Ehrlichkeit, andere scheinen eher verzichtbar. „Dieses Buch ist kein Reiseführer, dieses Buch soll zum Leben anspornen,“ schreibt Altmann. Aber natürlich spielen auch in diesem Buch seine Reise-Erfahrungen eine Rolle, die Begegnungen mit einem Sterbenden am Ganges, mit Heimatlosen…