Türkei: Vom Brücken- zum Krisenstaat
Rezensionen / 19. Oktober 2017

Dem deutschen Menschenrechtler Peter Steudtner droht eine Anklage wegen versuchten Umsturzes, die deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu sitzen seit Monaten in Untersuchungshaft, die aus Ulm stammende Frau sogar mit ihrem zweijährigen Kind. Die Türkei, jahrelang eines der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen, wandelt sich immer mehr zum Krisenstaat. Kann man unter diesen Umständen heute noch in die Türkei reisen? Von Atatürk zu Erdogan Wer sich mit dem Thema beschäftigt, sollte das Buch von Hasnain Kazim lesen. Der Spiegel-Korrespondent mit pakistanischen Wurzeln beschreibt darin nicht nur Erdogans Aufstieg, sondern verweist auch auf die Geschichte der Türkei und die Rolle Atatürks, des lange fast religiös verehrten Vaters der modernen Türkei. Dieser geschichtliche Exkurs vermittelt auch Verständnis für Erdogans eigene Entwicklung vom Versöhner zum Spalter. Traum vom osmanischen Reich Der tief im islamischen Glauben verwurzelte Politiker träume von einer Renaissance des osmanischen Reichs, ist Kazim überzeugt. Sichtbares Zeichen für den Einfluss des Islams auf die Gesellschaft im bislang eher als säkulär wahrgenommenen Istanbul soll die Mega-Moschee in Camlica sein. Der rund 70 Millionen Euro teure Bau gilt als „Herzensangelegenheit“ Erdogans. Und sie ist nicht der einzige Moschee-Neubau: „Seit Erdogan die politische Bühne betreten hat, sind in der Türkei mehr als siebzehntausend neue…

Ulla Hahn: Lyrikerin im Klassenkampf
Rezensionen / 16. September 2017

Irgendwie ist sie doch stolz darauf, „dat Kenk von nem Prolete“ zu sein und es trotzdem so weit gebracht zu haben, dass sie sich heute als Frau von Klaus von Dohnany, dem elder Statesman, in Hamburgs bester Gesellschaft bewegt. Ulla Hahn, längst als Lyrikerin etabliert, lässt die Leser in ihrer nun auf vier Bände angewachsenen und nur leicht fiktiv verfremdeten Rückschau Teil haben an ihrer Entwicklung. Nach dem großartigen ersten Band „Das verborgene Wort“, nach „Aufbruch“ und dem weniger überzeugenden „Spiel der Zeit“ schließt sie die eigene Selbstbefragung nun mit dem schwer gewichtigen „Wir werden erwartet“ ab und konfrontiert sich selbst und die Leser mit den Irrungen und Wirrungen einer politisch fehlgeleiteten Jugend. „Meine Lernbegier, mein Lesehunger, mein Bildungsdurst waren von Anfang an auch von Aufsässigkeit und Angriffslust gespeist, geboren aus einer Haltung, es Denendaoben zu zeigen. Ihre Villen und Fabriken konnte ich mir nicht aneignen, wohl aber die ganz Fülle ihrer künstlerischen und gedanklichen Reichtümer, die sie, die Besitzenden, den Unterdrückten vorenthielten.“ Hilla Palm, Hahns Alter Ego, das begabte Arbeiterkind, das sich das Recht auf Bildung gegen den aufbrausenden Vater und die fast missgünstige Mutter erstritten hat, das aus der katholischen Enge aus- und aufgebrochen ist in die weite…

Komplexes Lebens-Puzzle
Rezensionen / 4. Mai 2017

Jonas Hassen Khemiri, 1978 als Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter in Stockholm geboren, gilt als die zornige Stimme der Vororte und als Star der schwedischen Literaturszene. Sein Debütroman, „Das Kamel ohne Höcker“ (2003), brachte ihm internationale Anerkennung ein. „Alles, was ich nicht erinnere“, sein vierter Roman, wurde mit dem August-Preis ausgezeichnet, dem wichtigsten schwedischen Literaturpreis. Auch in diesem Roman leiht er den Vororten seine Stimme, den Menschen am Rand der Gesellschaft. Ungeordnete Erinnerungsfetzen Der Inhalt ist schnell erzählt: Der 27-jährige Samuel, der in einer Migrationsbehörde arbeitet, fährt den alten Opel seiner Oma gegen einen Baum. Unfall oder Selbstmord? Ein Autor – am Ende des Buches erfährt man mehr über diese Figur – versucht zu verstehen, was passiert ist und Samuels Leben und Persönlichkeit aus ungeordneten Erinnerungsfetzen seiner Freunde und Verwandten zusammenzusetzen. In oft nur fragmentarischen Statements berichten die unterschiedlichsten Ich-Erzähler über ihre Erfahrungen mit dem jungen Mann. Für den Leser ist es kompliziert, die einzelnen Puzzleteile den jeweiligen Personen zuzuordnen, denn Khemiri hält sich auch nicht an eine zeitliche Abfolge. Am Ende ein Scherbenhaufen So bleibt es dem Leser überlassen, die oft widersprüchlichen Einzelteile zum Ganzen zusammenzufügen. Ein Ganzes, das eine brüchige Welt offenbart. Unter den Stimmen…

Literarisches Verwirrspiel
Rezensionen / 21. März 2017

Ausgerechnet „am Ende der Welt“, im bretonischen Finistère, gibt es eine ganz besondere Bibliothek. Hier können abgelehnte Manuskripte abgegeben werden. Und ausgerechnet hier entdeckt eine junge Lektorin, die sich durch ihr Gespür für erfolgversprechende Bücher einen Namen gemacht hat, einen Roman, der das Zeug zum Bestseller hat. Hauptsache, das Narrativ stimmt  Der Verfasser, ein Pizzabäcker, ist schon tot und seine Witwe beteuert, ihr verstorbener Mann habe Zeit seines Lebens kein Buch in die Hand genommen. Zweifel sind also angebracht. Doch schnell spült der Buchmarkt den Roman nach oben: Die Geschichte des unbekannten Pizzabäckers, der einen Bestseller verfasst hat, ist zu schön, um nicht in die Öffentlichkeit hinaus posaunt zu werden. Posthum wird Henri Pick zum Literaturhelden – und zu einem Katalysator, der das Leben in Finistère verändert. Witwe und Tochter Picks stehen plötzlich im Rampenlicht ebenso wie die Leiterin der örtlichen Bibliothek. Ja selbst deren Gründer, auch er längst verstorben, kommt zu neuen Ehren. Die Eitelkeiten der Literaturszene  David Foenkinos beschreibt den erstaunlichen Reigen, den die Entdeckung auslöst, mit viel Spaß am Vexierspiel und noch größerer Freude an der Entlarvung der Eitelkeiten in der literarischen Szene. Dass er die als Insider zur Genüge kennt, beweisen die Namen und Anekdoten, die…

Wenn Gemälde sprechen könnten
Rezensionen / 12. Dezember 2016

Hannah Rothschild kennt sich aus in der Welt der Reichen und der Kunst. Die 1962 geborene Autorin aus der berühmten Bankiersfamilie steht seit 2015 dem Aufsichtsrat der Londoner National Gallery vor – als erste Frau in der Geschichte des renommierten Hauses. Für ihr Romandebüt „Die Launenhaftigkeit der Liebe“ hat sie jahrelang recherchiert. Das merkt man dem Buch an, das immer wieder mit präziser Sachkenntnis überrascht. Viele Geschichten in einem Roman Dabei ist Rothschilds dickes Buch über die verschlungenen Wege eines Gemäldes und die Perfidie von Kunsthändlern weit mehr als ein Roman über Kunst, er ist auch Historien- und Kriminalroman und zudem eine Liebesgeschichte – und er bringt ein Gemälde zum Reden. Es ist Watteaus „Die Launenhaftigkeit der Liebe“, lang verschollen und nun unter dubiosen Umständen wieder aufgetaucht. Zur Versteigerung sind alle angereist, die auf dem Kunstmarkt Geld und Namen haben. Für das – fiktive – Gemälde eine Selbstverständlichkeit, hatte es doch zu seinen besten Zeiten Könige, Päpste und Mätressen erfreut: „Ich wusste, dass ich gerettet werden würde, aber nicht, dass es fünfzig Jahre dauern sollte. Es hätte Suchmannschaften geben müssen, Bataillone und Legionen. Warum? Weil ich unbezahlbar bin.“ Außerdem galt das so von sich überzeugte Gemälde als größte und bewegendste Darstellung…

Bobby: Vom Verlust der Sicherheit
Rezensionen / 9. September 2016

Es war die Katastrophe, die Amerika verändert hat. Als die Türme des World Trade Centers in sich zusammenbrachen, zerstob auch der Glaube der US-Amerikaner an die grenzenlosen Möglichkeiten der Nation. 9/11 bleibt im kollektiven Gedächtnis der USA als eine Art Wendepunkt. Doch nicht nur die Nation wurde ins Mark getroffen, auch viele Familien müssen seither mit dem Verlust eines geliebten Menschen leben. So wie die Amendolas. Eine Familie im Ausnahmezustand In seinem Romandebüt „Bobby“ beschreibt der studierte Jurist Eddie Joyce, wie die Familie mit diesem Verlust umgeht und welche Folgen er hat. Bobby ist der jüngste Sohn von Gail und Michael Amendola, ein Sonnyboy. Zumindest sieht ihn die Mutter im Rückblick so. Wie sein Vater engagierte er sich bei der Feuerwehr in New York und als Sportler, allerdings nicht beim Football, sondern beim Basketball – gegen den Willen von Michael. Denn natürlich hat auch der Jüngste seinen eigenen Kopf, so wie der Älteste Peter, der studiert hat und weggezogen ist von Staten Island, um als Anwalt erfolgreich zu sein. Oder wie Franky, der Mittlere, der nicht so recht in die Gänge kommt. Alles läuft eigentlich so wie es laufen sollte – mit größeren und kleineren Problemen. Familienalltag eben. Bis zu…

Satin Island: Müll der Zivilisation
Rezensionen / 24. Mai 2016

Ein Anthropologe sitzt irgendwo im Keller des Unternehmens, für das er arbeitet und schreibt an einem Narrativ für einen Großkunden, einer Art Blaupause für ein profitables Geschäftsmodell, das er zwischendurch am liebsten sabotieren würde. „Nennt mich U. – Call me you“ sagt der Erzähler gleich zu Anfang, „nennt mich du“. Damit beginnt der Autor ein intellektuelles Spiel, in dem er dem Leser immer wieder neue Narrative vorsetzt, ihn über neue Strukturen grübeln lässt und die Grenze zwischen ihm und dem Autor oder auch dem Erzähler verwischt. Satin Island hat kein Plot und keine Charaktere John McCarthy, der nicht nur Schriftsteller ist, sondern auch Künstler und Philosoph und als solcher bestens vertraut mit dem Strukturalisten Claude Lévi-Strauß, verweigert in „Satin Island“ die klassischen Zutaten eines Romans. Das Buch hat keine zentrale Erzählung, kein Plot, auch keine Figuren im üblichen Sinn. U beschäftigt sich vor allem damit, Dossiers anzulegen über Abstürze von Fallschirmspringern und Haiattacken, über Spammails und über die Bügelfalten von Jeans. Doch der „große Bericht“, der alles umfassen soll, scheint ihm zu entgleiten. U’s Chef Peyman kommt nur als Auftraggeber des „großen Berichts“ ins Spiel, U’s Freund Petr ist als Krebskranker schon nicht mehr von dieser Welt, und Madison, mit…

Lebenslügen
Rezensionen / 24. Februar 2016

Owen Sheers gilt als „Universalgenie der britischen Gegenwartsliteratur“. Der 1974 in Fidji geborene Autor hat Gedichte geschrieben, Romane, Dramen. Auch ein Sachbuch und ein Libretto hat er verfasst. Mit „I saw a man“ hat sich Sheers nach eigener Aussage „erstmals einem Gesellschaftsroman über unsere Zeit zugewendet“. Der Roman startet furios wie ein Psychothriller. Ein Mann betritt das Haus der befreundeten Nachbarn durch die Hintertür. Klingt nicht aufregend, lässt aber durch den ersten Satz („Der Vorfall, der ihrer aller Leben veränderte“) ahnen, dass dieser ungebetene Besuch Folgen haben wird. Auf die Aufklärung, warum das so ist, lässt Sheers die Leser über 160 Seiten lang warten. Denn, was er zeigen will, ist weit mehr. Es geht darum, wie alles miteinander zusammenhängt. Um den berühmten Reissack, der in Indien umfällt, oder den Schlag des Schmetterlings in Südamerika, die beide weltweit Folgen haben. Sheers bricht diese Erkenntnis auf das Privatleben seiner Protagonisten herunter. Michael, ein Autor, der sich immer wieder erfolgreich in das Leben anderer einschleicht und daraus seinen Roman-Honig saugt, hat seine Frau Caroline, eine ehrgeizige Journalistin, die „embedded“ auf Recherche in Pakistan war, bei einem amerikanischen Drohnen-Angriff auf einen Terror-Chef verloren. In London hat er sich mit seinen Nachbarn Josh und Samantha…