Unterleuten: Dörfliche Abgründe
Rezensionen / 15. September 2016

„Je mehr ich erfuhr, desto stärker erinnerte mich die Geschichte an mein Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop, in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus… Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.“ Es ist eine Journalistin, die am Ende der 600-seitigen Dorfchronik Unterleuten Bilanz zieht. Juli Zeh hat sie erfunden wie die Dorfbewohner auch. Ihr Unterleuten ist ein fiktives Dorf in Brandenburg, wo man – wie der Titel andeutet – unter Leuten ist, also selten allein. Und diese Leute sind allesamt seltsam, sowohl die Zugezogenen als auch die Einheimischen. Juli Zeh beschreibt ihr Dorf als Mikrokosmos, bevölkert es mit frustrierten Wendeverlierern und naiven Aussteigern. Was den Zugezogenen zunächst als Idylle erscheint, die Ruhe und Natur verspricht, birgt für die, die seit jeher dort wohnen, eine Menge unbewältigter Konflikte. Die Idylle kippt, die Dorfgemeinschaft zerbricht Als ein Windpark gebaut werden soll, eskaliert die uralte Fehde zwischen den beiden verstockten Dorf-Chefs. Auch die Aussteiger stecken plötzlich mittendrin in dem Dorf-Krieg – und sie müssen sich entscheiden. Der glücklose Akademiker, der mit Frau und Baby aufs Land gezogen ist, um sich fortan als Vogelschützer der Natur zu…

Bobby: Vom Verlust der Sicherheit
Rezensionen / 9. September 2016

Es war die Katastrophe, die Amerika verändert hat. Als die Türme des World Trade Centers in sich zusammenbrachen, zerstob auch der Glaube der US-Amerikaner an die grenzenlosen Möglichkeiten der Nation. 9/11 bleibt im kollektiven Gedächtnis der USA als eine Art Wendepunkt. Doch nicht nur die Nation wurde ins Mark getroffen, auch viele Familien müssen seither mit dem Verlust eines geliebten Menschen leben. So wie die Amendolas. Eine Familie im Ausnahmezustand In seinem Romandebüt „Bobby“ beschreibt der studierte Jurist Eddie Joyce, wie die Familie mit diesem Verlust umgeht und welche Folgen er hat. Bobby ist der jüngste Sohn von Gail und Michael Amendola, ein Sonnyboy. Zumindest sieht ihn die Mutter im Rückblick so. Wie sein Vater engagierte er sich bei der Feuerwehr in New York und als Sportler, allerdings nicht beim Football, sondern beim Basketball – gegen den Willen von Michael. Denn natürlich hat auch der Jüngste seinen eigenen Kopf, so wie der Älteste Peter, der studiert hat und weggezogen ist von Staten Island, um als Anwalt erfolgreich zu sein. Oder wie Franky, der Mittlere, der nicht so recht in die Gänge kommt. Alles läuft eigentlich so wie es laufen sollte – mit größeren und kleineren Problemen. Familienalltag eben. Bis zu…

Elanus: Superhirn mit Drohne
Rezensionen / 22. August 2016

Mit ihren Jugendbüchern war die Wiener Autorin Ursula Poznanski oft genug ihrer Zeit voraus. Diesmal hat es nicht so ganz geklappt. Denn Drohnen sind schon jetzt keine Seltenheit. Vor kurzem erst ist eines der Flugobjekte unter meinem Fenster gecrasht. Und bei meiner letzten Reise auf Mauritius war eine Kollegin dabei, die ihre Drohne auf Fototour schickt. Nerviger Typ Elanus hat also viele Geschwister. Doch die wenigsten sind wohl so auf das Ausspähen anderer programmiert wie er. Der 16-jährige Jona, ein intellektueller Überflieger und Klugscheißer, benutzt Elanus zunächst wie ein Stalker. Das macht ihn nicht gerade sympathisch. Und sein erster Auftritt in der neuen Uni, wo er so ziemlich der jüngste Student ist, geht auch katastrophal daneben. Dass Jona sich in der Gastfamilie, in der er während des Studiums leben soll, nicht wohlfühlt, kann man sich unter den Umständen gut vorstellen. Nichts passt dem jungen Superhirn, weder das Essen, das die Hausfrau auf den Tisch bringt, noch die Familiengespräche und schon gar nicht die Tochter, die etwas älter ist als er. Da ist man schon leicht genervt mit dem Typen, dem man wohl nichts recht machen kann. Und wer wäre schon gerne in der Situation von Linda, der Jona Elanus hinterherschickt?…

Donna Leon: Wie die Fliege im Bernstein
Rezensionen / 5. August 2016

Es ist der 25. Fall für Commissario Brunetti, jenen „guten Menschen“, den Donna Leon sich ausgedacht hat, und der einfach nicht älter wird. Die Lebenszeit ist einfach stehen geblieben in den Krimis „wie die Fliege im Bernstein“, weil die Leser es so wollen. So Donna Leon in einem Interview mit der Welt. Da passt dann auch der Titel des neuen Romans „Ewige Jugend“. Auch im Roman steht die Metapher vom Insekt im Bernstein. Doch es geht nicht um von Schönheitsoperateuren verjüngte Frauen, nicht um Anti-Aging, sondern um einen Alptraum. Erwachsen geworden und Kind geblieben Als junges Mädchen war die bildhübsche Manuela in einem der venezianischen Kanäle so lange unter Wasser geraten, dass sie einen Hirnschaden erlitt. Inzwischen ist sie erwachsen, immer noch bildhübsch – aber ein Kind geblieben. Ihre Großmutter kann nicht akzeptieren, dass Manuela das Opfer eines Unfalls wurde. Deshalb ermittelt Brunetti in dem 15 Jahre alten Fall, von dem eigentlich niemand mehr etwas wissen will. Und natürlich kommt er auf seine gelassene Art und Weise einem scheußlichen Komplott auf die Spur. Dazwischen hat der Commissario ausgiebig Gelegenheit, sich über seinen Vorgesetzten Patta zu ärgern, die Hilfe von Signorina Elettra in Anspruch zu nehmen, die Kochkunst seiner Frau Paola…

Ein Mord und viele Schuldige
Rezensionen / 22. Juli 2016

Mark Billingham weiß, wie er seine Leser drankriegt. Am Anfang ein irritierendes Gespräch mit einem Häftling, das mit dem Resümée endet, dass der Gesprächspartner doch nur wissen wollte, wie es ist, jemanden zu töten. Die Aufklärung lässt über 400 Seiten auf sich warten. Und natürlich gibt es einen Mord. Ausgerechnet an einer jungen Frau, die über weite Strecken noch das am wenigsten unsympathische Mitglied des Therapiekreises ist. Der Mörder könnte jeder aus Tony da Silvas Kreis sein – der Therapeut eingeschlossen. Es sind Ex-Süchtige, Vereinsamte, Enttäuschte, die er einmal die Woche in seiner Wohnung versammelt, um ihnen eine Zukunft vorzugaukeln. In Zeitsprüngen zwischen Damals und Jetzt entwickelt Billingham das Psychogramm eines Mordes, der nur einen Täter hat, aber viele Schuldige und an dessen Aufklärung die Ermittlerin scheitern muss. Wechselbad der Gefühle Billingham zieht die Leser buchstäblich in den Therapiekreis hinein, lässt sie Teil haben an der Selbstdemontage des Therapeuten, der als Familienmensch ebenso scheitert wie als neutraler Beobachter. Lässt sie mit ansehen, wie die Gruppenmitglieder untereinander agieren und reagieren, wie sie sich seelisch entblößen und ihre Schwächen zur Diskussion stellen – und wie sie doch immer wieder fast verzweifelt versuchen, den anderen zu gefallen, wenigstens diese Beziehung aufrecht zu erhalten,…

Schicksalhafter Bruderzwist
Rezensionen / 22. Juli 2016

Mit seinem Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ hat sich der studierte Jurist Joel Dicker in den Schweizer Literaturhimmel katapultiert. Das Buch wurde vielfach ausgezeichnet und stand auch bei uns wochenlang auf der Bestesellerliste. Jetzt hat Dicker einen neuen Roman vorgelegt, der nicht weniger spannend und verschachtelt ist wie sein Vorgänger: „Die Geschichte der Baltimores“. Und wieder ist es der Schriftsteller Marcus Goldmann, der diese amerikanische Familiengeschichte erzählt. In „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ war Goldmann entscheidend an der Aufklärung eines Kriminalfalles beteiligt – und hat ein Buch darüber geschrieben. Nichts ist, wie es scheint Diesmal taucht er ein in die Geschichte seiner Kindheit und Jugend. Goldmann erzählt von seinen Eltern, den Armen aus Montclair, und von den bewunderten Verwandten, den Reichen aus Baltimore, bei denen er regelmäßig die Schulferien verbringt. Mit den Cousins Hillel und Woody verbindet ihn eine enge Freundschaft, auch wenn er manchmal neidisch ist auf die beiden und ihre so perfekt wirkende Einheit. Doch die Fassade bröckelt, als Alexandra auftaucht und alle drei Jungs sich in das Mädchen verlieben. Es ist Marcus, der Alexandra für sich gewinnt – und damit eine Katastrophe auslöst. Die hat sich schon lange vorher abgezeichnet. Tatsächlich ist…

Er oder ich?
Rezensionen / 4. Juli 2016

„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Der Titel von Richard David Prechts Philosophie-Buch könnte auch über Joao Tordos Roman stehen. „Stockmanns Melodie“ beschäftigt sich mit der Frage der Individualität, der Einzigartigkeit. Schon ganz am Anfang träumt der Kontrabassist Hugo „noch ohne darum zu wissen, von seinem Ebenbild, einem Mann, der er noch nicht kannte und der doch in allem mit ihm identisch und anders war als er selber“. Hugo ist eine gescheiterte Existenz, sein Leben ein Labyrinth – bis er in einem Konzert den Jazzpianisten Luis Stockmann hört und in einer Melodie seine eigene unfertige Komposition wieder zu erkennen glaubt. Das Unerhörte wirft Hugo vollends aus der Bahn. Wie besessen sucht er nach Verbindungen und glaubt schließlich in Stockmann den bei seiner Geburt verstorbenen Zwillingsbruder zu erkennen. Aus der Verwirrung kann ihn nur die Ermordung des vermeintlichen Bruders befreien – oder der Selbstmord. Im zweiten Teil des Romans nämlich meldet sich Luis Stockmann ganz munter zu Wort und erzählt das Gganze aus seiner Sicht. Auch er, im Gegensatz zum eher schüchternen Hugo, ein erfolgsverwöhnter Künstler, wird durch die Begegnung aus der Bahn geworfen. Was ihn bewogen hat, den Spuren des Phantoms zu folgen, erzählt er einem befreundeten Schriftsteller…

Lügen von Gestern und Heute
Rezensionen / 20. Juni 2016

„Hast du das Leben, fragte er sich, das du dir gewünscht hast? Aber auch vor einem Wunschleben machte die Gewohnheit nicht Halt.“ Selten wohl schafft es eine Lektüre, dass man den eigenen Standpunkt in Frage stellt. Doch bei Ursula Frickers Roman „Lügen von gestern und heute“ kommt man schnell ins Grübeln. Macht man es sich wirklich zu einfach, wenn man sich auf eine Meinung zum Thema Flüchtlinge festlegt? Folgt man nur dem Mainstream, wenn man für mehr Toleranz ist? Ist es eher Ausdruck von Denkfaulheit und Differenzierungsunwilligkeit, wenn man die Räumung von Flüchtlingsheimen ablehnt? Was ist wirkliche Überzeugung und wo lügt man sich in die eigene Tasche? Die Antworten sind nicht ganz einfach und nicht immer erfreulich. Was die Schweizerin Fricker in ihrem Roman zeigt, ist auch, dass es kein Schwarz-Weiß gibt. Dass unsere Welt eher grau ist – auch wenn wir es gerne anders hätten. Dass auch die andere Seite manchmal gute Argumente hat. Dass auch hinter einem Bürokraten ein mitfühlender Mensch stecken kann und hinter eine Tochter aus gutem Haus eine Terroristin. Fricker stellt drei Personen in den Mittelpunkt ihres Romans: Die Studentin Isa, die Prostituierte Beba und den Innensenator Otten. Isa, die sich zunehmend radikalisiert und Otten…

Satin Island: Müll der Zivilisation
Rezensionen / 24. Mai 2016

Ein Anthropologe sitzt irgendwo im Keller des Unternehmens, für das er arbeitet und schreibt an einem Narrativ für einen Großkunden, einer Art Blaupause für ein profitables Geschäftsmodell, das er zwischendurch am liebsten sabotieren würde. „Nennt mich U. – Call me you“ sagt der Erzähler gleich zu Anfang, „nennt mich du“. Damit beginnt der Autor ein intellektuelles Spiel, in dem er dem Leser immer wieder neue Narrative vorsetzt, ihn über neue Strukturen grübeln lässt und die Grenze zwischen ihm und dem Autor oder auch dem Erzähler verwischt. Satin Island hat kein Plot und keine Charaktere John McCarthy, der nicht nur Schriftsteller ist, sondern auch Künstler und Philosoph und als solcher bestens vertraut mit dem Strukturalisten Claude Lévi-Strauß, verweigert in „Satin Island“ die klassischen Zutaten eines Romans. Das Buch hat keine zentrale Erzählung, kein Plot, auch keine Figuren im üblichen Sinn. U beschäftigt sich vor allem damit, Dossiers anzulegen über Abstürze von Fallschirmspringern und Haiattacken, über Spammails und über die Bügelfalten von Jeans. Doch der „große Bericht“, der alles umfassen soll, scheint ihm zu entgleiten. U’s Chef Peyman kommt nur als Auftraggeber des „großen Berichts“ ins Spiel, U’s Freund Petr ist als Krebskranker schon nicht mehr von dieser Welt, und Madison, mit…

Heldensturz: Martin Walkers Eskapaden
Rezensionen / 18. Mai 2016

Bruno, Chef de Police in der Kleinstadt Saint Denis, ist so manchem Krimi-Freund schon ans Herz gewachsen. Löst der Genussmensch im schönen Périgord doch mittlerweile auch schon seinen achten Fall. Und das auf gewohnt nonchalante Art mit viel französischem Savoir Vivre. Für Bruno heißt „Leben wie Gott in Frankreich“ vor allem gut essen und trinken, aber auch die Liebe spielt eine wichtige Rolle. Schließlich ist der Chef de Police ein Mann, der die schönen Seiten des Lebens zu schätzen weiß. Bei seinem achten Fall unter dem Titel „Eskapaden“ wäre er beinahe über seine eigene Schwäche gestolpert. Doch Bruno ist zu sehr Polizist, um sich an der Nase herumführen zu lassen. Soweit so gut. Der achte Fall entpuppt sich als ziemlich kompliziert, führt weit in die Vergangenheit zurück und bis hinauf in die hohe Politik. Gorbatschow spielt eine Rolle, Jelzin, Mitterand. Vielleicht hat der Schotte Martin Walker, der auch mal politischer Journalist war und der mit seinen Krimis das Périgord auf die literarische Landkarte gesetzt hat, da etwas zu hoch gegriffen. Der Fall nimmt zwar nach einigen Längen Fahrt auf, aber zwischendurch scheinen dem Autor die Fäden, die er knüpfen will, zu entgleiten. Da ist doch so manches unlogisch und arg…