Entlarvender Sommerabend
Rezensionen , Romane / 17. April 2024

Ein Sommerabend, das klingt harmlos, ja einladend. Doch in Cécile Tlilis gleichnamigem Romanerstling werden an diesem Sommerabend ganze Lebensentwürfe zertrümmert. Die Pariserin inszeniert ein fesselndes Kammerspiel mit vier Personen, zwei Paaren. Gegensätzliche Paare Die Männer, Etienne, der attraktive Gastgeber, und der eher unscheinbare Rémi, kennen sich aus Studienzeiten. Der eine kommt aus einer angesehenen Familie und ist wie sein Vater Anwalt. Der andere hat sich das Studium hart verdienen müssen und ist Lehrer geworden. Doch für Rémi hat sich mit der Beziehung zu der gebürtigen Tunesierin Johar alles geändert. Denn die ehrgeizige Johar hat sich zäh nach oben gekämpft – auch gesellschaftlich. Auf die junge, schüchterne Claudia, die neueste Eroberung des Frauenlieblings Etienne, wirkt die Karrierefrau einschüchternd. Umso mehr bemüht sie sich, die Einladung zu einem Erfolg zu machen. Unterschiedliche Aussichten Doch das schafft nicht einmal ihre gute Küche. Von Anfang an liegt eine fiebrige Spannung in der Luft: Johar steht vor einem neuen Karrieresprung, und Claudia hat erfahren, dass sie schwanger ist. Gegensätzlicher könnten die Aussichten für die beiden Frauen nicht sein. Das wird nicht so bleiben, auch wenn Johar der Versuchung nicht widerstehen kann, den anderen ihren möglichen Aufstieg an die Spitze des Konzerns zu verraten. Egoistische Pläne…

Jenseits von Landlust
Rezensionen , Romane / 16. April 2024

Martina Bogdahn weiß, wovon sie schreibt. Das spürt man vor allem in den eindringlichen Schilderungen des Landlebens in ihrem ersten Roman „Mühlensommer“. Die Fotografin ist in Weißenburg geboren und auf einem Einödhof aufgewachsen. Die Ähnlichkeiten mit der Protagonistin des Romans sind also nicht zufällig. Wie die Ich-Erzählerin Maria hat Martina Bogdahn dem elterlichen Hof den Rücken gekehrt, um zu studieren und später in München zu leben. Zwischen Stadt und Land Was sie in „Mühlensommer“ thematisiert, kennt sie selbst: Das Leben zwischen zwei Welten und die Sehnsucht nach Heimat. Dabei ist die Mühle, die im Mittelpunkt des Romans steht, alles andere als heile Welt. Das Geld ist knapp, auch die beiden Kinder Thomas und Maria müssen mithelfen – bei der Ernte, beim Hopfenzupfen, auch beim Schlachten. Die Eltern haben wenig Zeit für die Kinder, die Oma führt ein strenges Regime und entspricht so gar nicht den kindlichen Vorstellungen einer liebevollen Großmutter. Im Gegenteil, als Maria sich über die ersten Katzenbabys freut, werden sie von der Oma ertränkt. Nur keine Sentimentalitäten. Vertraute Gerüche Maria hat sich weit entfernt von diesem Leben, ist in der Großstadt angekommen und hat dort auch arrivierte Freunde gefunden. Die zwei Töchter sind Mode affin und haben keine…

Abgründe in der Maremma
Rezensionen , Romane / 15. April 2024

„Hinter verschlossenen Türen“, so auch der Titel des Romans von Sacha Naspini, passiert so einiges, was das Licht der Öffentlichkeit scheut. Der Autor, der selbst aus Grosseto kommt, öffnet die Türen des fiktiven Dorfes Le Case in der Maremma für eine staunende und immer wieder auch schockierte Leserschaft. Naspini hat ein vielstimmiges Porträt eines sterbenden Ortes geschrieben, rau und rücksichtslos. Bösartiger Chor Im Zentrum der Geschwätzigkeit steht Samuele, der Waisenjunge, der Le Case den Rücken gekehrt hatte und nach einer Mordankläge zurückgekommen war. Um ihn ranken sich viele der Geschichten. Lügenmärchen, Erinnerungen, Verleumdungen. Samuele ist so etwas wie der rote Faden in diesem vielstimmigen, oft bösartigen Chor. Dass er anders war als die wenigen gleichaltrigen Jungs im Dorf, erfährt man, dass er Schach geliebt hat, und wohl auch seine Großmutter, bei der er nach dem Verschwinden seiner Mutter aufgewachsen ist. Geschichten vom Überleben Wer Samuele wirklich war, darf er selbst erzählen, kurz bevor alles zu Ende ist  – das Buch und Le Case. Doch davor konfrontiert Sacha Naspini die Lesenden mit der ganzen Boshaftigkeit der Dorfbewohner – und mit Geschichten vom Überleben. Wie die des deutschen Soldaten, den eine Mutter aus Le Case bei sich aufnahm, um aus ihm einen…

Spiegelbild der Liebe
Rezensionen , Romane / 2. April 2024

Als Geisterbaron hat sich Albert von Schrenck-Notzing einen Namen gemacht. Bei den Séancen traf sich die Münchner Bohème. Auch Thomas Mann ließ sich beeindrucken, so sehr, dass er dem Freiherrn einen Auftritt in seinem „Zauberberg“ gönnte. Jetzt hat der Filmemacher Jan Schomburg dem schillernden Mediziner Schrenck-Notzings einen ebenso schillernden Roman gewidmet. Traumata und Voodoo Dafür spannt er einen weiten Bogen – vom Geisterglauben im Fin de siècle in München über den Ersten Weltkrieg und seine Traumata, aribische Voodoo-Rituale und ein Massaker in Haiti bis zum Aufkommen des Faschismus in Deutschland und seine zerstörerischen Folgen. Die große Liebe Und mittendrin der Freiherr, der die Kunst der Hypnose beherrscht und medial begabte Menschen dazu bringen kann, im Dunkeln schwebende Gebilde hervorzubringen. Ein Mann der Wissenschaft, so sieht er sich. Und ein Mann, der liebt. Ella, die Tochter aus reichem Haus, ist seine große Liebe. Eine selbstbewusste Frau mit ausgeprägtem Eigenleben. Existentielle Krise Während ihr Mann das Unbewusste erforscht, ist sie fasziniert vom Wunder des Fliegens. Ihr Tod stürzt Albert in eine existentielle Krise: „Alberts Liebe zu Ella war so tief in ihn eingeschrieben, so vielgestaltig mit seiner gesamten Existenz verknüpft, dass ihm die Vorstellung, es könnte ihn ohne diese Liebe geben, ganz…

Zeit und Schicksal
Rezensionen , Romane / 28. März 2024

Das andere Tal, so auch der Titel dieses erstaunlichen Debüt-Romans von Scott Alexander Howard, liegt hinter den Bergen egal ob im Osten oder im Westen. Und es ist identisch mit dem Tal, in dem die Ich-Erzählerin Odile aufwächst. Alles gleich, die Häuser, die Schule, der See, die Hügel. Und doch ist etwas anders: Die Zeit. Im Westen ist alles 20 Jahre früher, im Osten 20 Jahre später. Ein unüberwindbarer Zaun trennt die Täler von einander. Regulierte Zeitreisen Aber es ist möglich, in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu reisen – mit behördlicher Genehmigung und aus einem triftigen Grund.  Wegen übergroßer Trauer etwa, wenn ein geliebter Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Wer würde nicht alles dafür geben, ihn oder sie noch einmal zu sehen? Oder wer würde nicht gern wissen, wie die Enkel leben? Berührungsängste Die Zeitreisenden dürfen allerdings nicht mit den von ihnen Ersehnten sprechen, sie müssen Masken tragen, um nicht erkannt zu werden. Denn um jeden Preis muss verhindert werden,  dass Menschen in das Schicksal eingreifen. Deshalb sind auch die Gendarmen so wichtig, die an der Grenze patrouillieren. Fast so wichtig wie der conseil, der über die Anträge auf Zeitreisen entscheidet. Zerstörerisches Wissen Die schüchtern Odile…

Am Ende der Sprachlosigkeit
Rezensionen , Romane / 17. März 2024

Als „Klimaroman“ wurde das erste Buch von Franziska Gänsler gefeiert, das in einer nahen Zukunft spielt in der Brände und Atemmasken an der Tagesordnung sind. Jetzt also der zweite Roman der gebürtigen Augsburgerin „Wie Inseln im Licht“. Kein Umweltroman, wie vielleicht zu erwarten. Eine Familiengeschichte, die um ein großes Rätsel kreist. Und wie im ersten Roman spielen auch hier die Frauen die Hauptrolle. Bruchstücke der Erinnerung Die Ich-Erzählerin Zoey ist nach dem Tod ihrer Mutter an die französische Atlantikküste zurückgekehrt, wo sie als Kind mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester Oda eine Zeitlang gelebt hat – in einem Wohnwagen auf einem abgelegenen Campingplatz. 20 Jahre ist das her, entsprechend bruchstückhaft sind die Erinnerungen der jungen Frau an diese Zeit, wie „Inseln im Licht“. Aber vieles kommt zurück „wie Schnüre rollen sich die Erinnerungen in mir auf“: „die Wärme in unserem Bauwagen, Oda im Bett, kalte Handtücher, die die Mutter um ihre Waden schlug“, die Lichter im Wald, goldene Lichter und Gesang. Das rätselhafte Verschwinden Jetzt ist sie hier, um die Asche der verstorbenen Mutter im Meer zu verstreuen. Aber noch mehr treibt sie die Erinnerung an die Schwester um, die plötzlich verschwand. Danach zog die Mutter mit Zoey in…

Aus der Zeit gefallen
Rezensionen , Romane / 15. März 2024

Susanne Matthiessen gehört der Boomer-Generation an, jener Generation, die in den 1960er Jahren geboren wurde. So viele Kinder hatte es nie zuvor in Deutschland gegeben – jetzt sind sie im Ruhestand oder kurz davor. In ihrem Roman „Lass uns noch mal los“ geht die Schriftstellerin dem Schicksal der rebellischen Boomer-Frauen auf den Grund.  Es waren Frauen, die mehr wollten als ihre Mütter. Die wollten, was ihnen zusteht, „ihre Hälfte der Welt“.  Aufbruchsstimmung in Kreuzberg In Kreuzberg versucht eine neue Frauenbewegung in besetzten Häusern ihre Träume zu verwirklichen. Die Ich-Erzählerin Susanne, die eigentlich eine Reportage über eine Rassehunde-Ausstellung schreiben sollte, landet während  blutiger Wirren in einer Frauen-Kommune. Es herrscht herrliche Aufbruchstimmung. „Ich möchte eigentlich allen nochmal in Erinnerung rufen, wer wir waren. Was wir waren. Wie wir waren. Am Ende haben wir alles noch in uns. Und ich denk mir, das was wir mal wollten, muss doch irgendwie möglich sein, jetzt mal zu vollenden“, sagt Susanne Matthiessen über ihren Roman. Eine Festung gegen das Patriarchat Und damals sah ja auch alles gut aus: Gemeinsam verwirklichen die Frauen ein eigenes Hausprojekt, BURG genannt, eine Festung gegen die Zwänge des Patriarchats. Männer müssen draußen bleiben. 40 Jahre später ist die Anfangs-Euphorie längst Geschichte,…

Der Preis der Integration
Rezensionen , Romane / 14. März 2024

Ein schönes Ausländerkind, so auch der Titel dieses Buchs von Toxische Pommes, war diese Ich-Erzählerin wohl. Angepasst, strebsam, blond und blauäugig. Aber halt immer noch Ausländerin, die nicht so richtig dazu gehört zu der österreichischen Gesellschaft. Das wird ihr spätestens dann klar, als ihr Lehrer, der sie mit Best-Noten überschüttete, ihrer Mutter davon abrät, die Tochter aufs Gymnasium zu schicken. Eine Einwandererfamilie in Österreich Ihren Ehrgeiz zur Anpassung hat das nicht gebremst. Sie geht aufs Gymnasium, studiert, ja promoviert. Im echten Leben ist Toxische Pommes, so das Pseudonym der Juristin, mit satirischen Beiträgen auf TikTok erfolgreich. In Zukunft vielleicht auch als Buch-Autorin. Denn der autofiktionale Roman „Ein schönes Ausländerkind“ erzählt böse und berührend zugleich die Geschichte einer Einwandererfamilie aus dem ehemaligen Jugoslawien, ihrer Familie. Wohnen gegen Hausarbeit Alles beginnt in Wiener Neustadt südlich der österreichischen Landeshauptstadt. Hier findet die Familie Unterschlupf in einem großbürgerlichen Haushalt. Wohnen gegen Hausarbeit ist der Deal, den die Hausherrin vorgibt. Vor allem die Mutter unterwirft sich dem strengen Regime.  Sie ist entschlossen,  erst einmal die Sprache ihres Gastlandes zu lernen und dann in ihrem Beruf Karriere zu machen.  Ehrgeizig wie sie ist auch die Tochter. Nur der Vater verweigert sich allen  Integrationsbestrebungen seiner Familie. Dabei…

Die Ich-Werdung einer Drusin
Rezensionen , Romane / 14. März 2024

Es ist eine für uns fremde Welt, die uns Haneen Al-Sayegh in ihrem Roman „Das unsichtbare Band“ vor Augen führt. Die hermetisch abgeschlossene Welt der Drusen, eine patriarchalisch orientierte Religionsgemeinschaft, die aus einer Abspaltung der ismailitischen Schia entstand. Hier wächst die ehrgeizige Ich-Erzählerin Amal auf, die sich durch Bildung von den Fesseln ihrer Familie und den archaischen Traditionen befreien will. Das Schicksal der Mutter Dass Mädchen und Frauen keine Rechte haben, will sie nicht akzeptieren. Auf keinen Fall will sie werden wie die Mutter, die sich tagtäglich für Mann und Kinder abrackert und sich dabei längst abhanden gekommen ist. Immerhin: Mit dem Backen von Brot verdient sie ihr eigenes Geld, das sie in den Schulbesuch ihrer Töchter investiert. Flucht in die Ehe Um dem strenggläubigen Elternhaus zu entkommen, heiratet Amal mit 15 den wohlhabenden Drusen Salem und zieht mit ihm in seine Villa. Kalt und leer erscheint ihr der ganze Luxus, mit dem ihr ungeliebter Mann sie umgibt. Aber sie kann ihm die Zusage abringen, ihren Schulabschluss machen zu dürfen und später sogar zu studieren. Um das zu erreichen, muss sie immer wieder auf die Wünsche ihres Mannes eingehen. Und obwohl sie nicht Mutter werden will, bringt sie für Salem…

Tod und Zukunft
Rezensionen , Romane / 1. März 2024

Uff, da hat sich Nicola Förg eines heiklen Themas angenommen – ausgerechnet in ihrem 15. Apenkrimi. Der Titel „Zornige Söhne“ führt ein bisschen in die Irre, denn so richtig zornig ist eigentlich nur ein Sohn. Aber das nur nebenbei. Roman im Roman Denn im Mittelpunkt dieses Krimis steht der Konflikt zwischen der Generation der Baby Boomer und der Generation Z. Dazu bedient sich Nicola Förg eines literarischen Kunstgriffs, eines Romans im Roman. Er entführt in die nahe Zukunft. Man schreibt das Jahr 2032, und sterbewillige Senioren können einen assistierten Suizid samt einwöchigem Aufenthalt in einem Luxusressort buchen. Die Last der Baby Boomer Verfasst hat den Roman, der als Weltbestseller durch die Decke geht, der Vater des junges Mannes, dessen Tod Irmi & Co untersuchen. Und während der Ermittlungen liest Irmi, die sich den Baby Boomern zugehörig fühlt und schon bald in Rente gehen wird, diese Geschichte. Das bringt sie zwar bei ihren Ermittlungen nicht unbedingt weiter. Aber es führt ihr vor Augen, dass ihre Generation für die Jungen immer mehr zur Belastung werden wird. Ein sozialverträgliches Sterben könnte also durchaus erwünscht sein… Komplizierte Ermittlungen Das allerdings betrifft nicht das Mordopfer. Denn Joshua hat noch sein Leben vor sich, als er…