Reisen als Ansichtssache
Rezensionen / 6. Juli 2021

Als Reiseführer taugt dieses Buch nicht, eher als Reisebegleiter für lange Abende oder Zugfahrten. 25 Autoren setzen sich mit dem Thema Reisen auseinander. Wobei sie Reisen ganz unterschiedlich interpretieren. Nicht immer geht es um Fortbewegung, um Urlaub von Zuhause oder vom Alltag. Vieles spielt sich auch nur im Kopf ab, in der Erinnerung. Zeitreisen sind dabei, Traumreisen und Geschichten zwischen Raum und Zeit, philosophische Betrachtungen, Surreales. Buchstäblich durch die Wand So hat Terézia Mora, Büchnerpreisträgerin 2018, eine poetische Wegbeschreibung verfasst, die am letzten Haus eines Ortes in Österreich beginnt und ein kleines, weißes Haus in Ungarn zum Ziel hat. Eine Reise durch Grenzgebiete, über eine Staatsgrenze, einmal buchstäblich durch eine Wand. Auch Corona spielt eine Rolle. Lutz Seiler (Kruso, Stern 111) etwa erzählt von einer Reise in Pandemie-Zeiten nach Schweden zu seiner Liebsten – mit Checkpoints und Durchreiseverboten. Stress beim Reisen Dass Reisen nicht nur eitel Wonne bedeutet, sondern auch Stress, kann man aus einigen der Geschichten auch herauslesen. Die vier Menschen etwa, die sich im Urlaub zum Partnerwechsel verabreden, sind hinterher nicht mehr dieselben. Das Ehepaar, das vergeblich versucht, einen überdimensionierten Koffer ins Auto zu laden, ist noch vor der Urlaubsfahrt heillos zerstritten. Und die beiden Freundinnen, die sich…

Zeit der Dilettanten
Rezensionen / 14. Mai 2020

Lutz Seiler schreibt in seinem mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman „Stern 111“ darüber, was die Wende vor 30 Jahren ermöglicht hat. Es ist eine Zeit des Um- und Aufbruchs. Das Alte zerfällt, das Neue muss erst noch entstehen. „Auf ihre Weise trugen Inge und Walter zum Umsturz bei, der überall im Gange war. Sie erschienen nicht mehr auf ihrer Arbeit, sie verließen ihren Platz und rüsteten zur Flucht, wenn man es so nennen wollte. Seine Eltern! Sie waren die unwahrscheinlichsten Flüchtlinge, die Carl sich vorstellen konnte.“ Eine Zuflucht für den Shigulimann Carl soll in Gera die Stellung halten, auf die Wohnung und das Auto achten, „die Nachhut bilden“. Rund zwei quälende Wochen lang harrt er aus. Dann macht sich auch Carl auf die Reise – im Shiguli des Vaters. In Berlin wird der sorgsam gepflegte Wagen zur Zuflucht. Untertags erkundet er den Prenzlauer Berg, die Nächte verbringt er im Auto. Hätte ihn „das Rudel“ um den Hirten „Hoffi“ nicht gefunden, wäre er in den kalten Winternächten erfroren. So findet der „Shigulimann“ eine neue Familie, ein neues Lebensgefühl. Er wird Teil einer revolutionären Gemeinschaft, der „Aguerilla“, erprobt neue Lebensformen und erkundet die Gegend um Rykestraße, Kollwitzplatz und Oranienburger Straße. Es…