Zeit der Verlogenheit
Rezensionen , Romane / 5. Juni 2025

Christine Kochschmieder lässt in ihrem neuen Roman „Frühjahrskollektion“ die Zeit des Wirtschaftswunders wieder aufleben – eine Zeit, in der Männer noch das Sagen hatten und die Wirtschaft boomte. Doch die 60-iger Jahre, in denen sie ihren Roman um die geschäftstüchtige Lilo ansiedelt, haben so gar nichts von der guten alten Zeit, von der ewig Gestrige bis heute schwärmen. Auch wenn sich damals die meisten Deutschen im allgemeinen Vergessen bequem eingerichtet hatten. Alte Seilschaften Auch Lilo und Harry bauen an ihrer neuen Zukunft, und die Tochter Reni soll Karriere als Mannequin machen. Lilo will mit einer Bademoden-Kollektion durchstarten, für Harry hat sie einen Job bei dem erfolgreichen Versandhändler Neckermann gefunden – über alte Kanäle. Genau diese Netzwerke funktionieren noch, ja sie haben das Wirtschaftswunder beflügelt. Zwar werden in den gleichzeitig laufenden Ausschwitz-Prozessen alte Verstrickungen offenbar, aber findigen Unternehmern gelingt es, sich gegen jeden Verdacht der Täterschaft zur Wehr zu setzen. Die junge Bundesrepublik setzt auf sie und ihren Erfolg. Wiedergutmachung passt da nicht ins Konzept. Dunkle Vergangenheit Christine Koschmieder hat gründlich recherchiert. Sie erzählt von den Verstrickungen, nennt die Profiteure beim Namen. Zu ihnen gehört auch Josef Neckermann, der Mann, der es für die Deutschen möglich machte, günstig in den Urlaub…

Pikantes über Gott und Italien
Reisebücher , Rezensionen / 5. Juni 2025

Andreas Englisch lebt seit 40 Jahren in Italien, ist Vatikanexperte und hat schon viele Bücher geschrieben. Allerdings noch keines wie „Alle Wegen führen nach Rom“. „Ich wollte Geschichten erzählen, die mit Gott und dem Land Italien zu tun haben“, sagte der Autor in einem Interview. Das Buch ist eine kulturelle Schnitzeljagd, die in elf Rätseln und einem Minivan von Südtirol nach Rom führt. Die Influencerin Unerwartet lernt der Autor bei einem Auftritt die erfolgreiche Influencerin Sue kennen, mit der er sich gegen seinen Willen auf eine turbulente Pilgerreise in die Ewige Stadt begibt. Woher die Rätsel kommen, wem sie gelten und ob es dabei auch um eine Buße für persönliche Verfehlungen geht, bleibt lange Zeit offen und steigert die Spannung wie bei einem guten Krimi. Das Heilige Jahr In Gesprächen mit Sue, die sich anfangs weder für Religion noch für die italienische Kunst interessiert, klärt Englisch über unbekannte Hintergründe zu bekannten Kunstwerken und zu religiösen Gebräuchen auf. Unter anderem auch darüber, wie die Idee zum Heiligen Jahr entstand – als Geldbeschaffungsmaßnahme von Papst Bonifatius VIII. Die unterschätzten Frauen Während er zunächst mit Sues respektloser Sprache und ihren merkwürdigen Mixer-Posts fremdelt, wächst sein Respekt für die nimmermüde und neugierige Influencerin und…

Haltlos im Lebensstrudel
Rezensionen , Romane / 3. Juni 2025

Vito hat Probleme mit seinem Leben oder das Leben hat Probleme mit ihm. Die Freundin hat ihn verlassen, seine Wohnung ist kalt und trist. Mit 30 Jahren fühlt sich Vito „super einsam“, so auch der Titel dieses aufwühlenden Debüts von Anton Weil. Angst und Trauer Vitos Vater ist zwar Diplom-Psychologe, tut sich aber schwer, sich auf den Sohn einzulassen. Da fehlt die Mutter, die an Krebs gestorben ist, als Vito 17 war. Dass sie schon früher eine Affäre hatte, als er noch ein kleiner Junge war, wird ihm erst später bewusst. Schon damals hatte er Angst, sie zu verlieren. Die Trauer über ihren Tod begleitet ihn auf seinem Weg ins Erwachsenen-Dasein: „Eine Woche vor ihrem Tod stehe ich mit ihr auf dem Friedhof am Südstern. Ich soll die Stelle aussuchen. Warum hält mich keiner? Mama versucht es, Mama berührt mich, streichelt mich, aber gibt keinen Halt, kann ja selbst kaum stehen, wir kippen. Sie ist zu schwach, gar nicht mehr ganz da.“ Die Lücke im Hirn Das Verlustgefühl hat ihn seither nicht mehr verlassen. Vielleicht ist er auch deshalb so unfähig, sein Leben auf die Reihe zu bringen.  Auch als Schauspieler versagt er, vergeigt seine Termine. Nur am Tresen in…