Christine Kochschmieder lässt in ihrem neuen Roman „Frühjahrskollektion“ die Zeit des Wirtschaftswunders wieder aufleben – eine Zeit, in der Männer noch das Sagen hatten und die Wirtschaft boomte. Doch die 60-iger Jahre, in denen sie ihren Roman um die geschäftstüchtige Lilo ansiedelt, haben so gar nichts von der guten alten Zeit, von der ewig Gestrige bis heute schwärmen. Auch wenn sich damals die meisten Deutschen im allgemeinen Vergessen bequem eingerichtet hatten.
Alte Seilschaften
Auch Lilo und Harry bauen an ihrer neuen Zukunft, und die Tochter Reni soll Karriere als Mannequin machen. Lilo will mit einer Bademoden-Kollektion durchstarten, für Harry hat sie einen Job bei dem erfolgreichen Versandhändler Neckermann gefunden – über alte Kanäle. Genau diese Netzwerke funktionieren noch, ja sie haben das Wirtschaftswunder beflügelt. Zwar werden in den gleichzeitig laufenden Ausschwitz-Prozessen alte Verstrickungen offenbar, aber findigen Unternehmern gelingt es, sich gegen jeden Verdacht der Täterschaft zur Wehr zu setzen. Die junge Bundesrepublik setzt auf sie und ihren Erfolg. Wiedergutmachung passt da nicht ins Konzept.
Dunkle Vergangenheit
Christine Koschmieder hat gründlich recherchiert. Sie erzählt von den Verstrickungen, nennt die Profiteure beim Namen. Zu ihnen gehört auch Josef Neckermann, der Mann, der es für die Deutschen möglich machte, günstig in den Urlaub zu reisen. Auch die wendige Lilo und Harry, der servile Volksdeutsche, haben eine dunkle Vergangenheit. Und ausgerechnet, als Lilo mit einem großen Event durchstarten will, holt diese sie ein. Als „Ansiedlungsbetreuerin“ in Litzmannstadt, dem polnischen Lodz, hat Lilo polnischen Kindern deutsche Namen gegeben, um sie in deutschen Familien unterzubringen. Und im berüchtigten Ghetto von Litzmannstadt wurden mit „billigem Arbeitsmaterial“ Textilien hergestellt.
Opfer für die Zukunft
Dass Lilo auch Opfer war, wird erst später offenbar. Christine Kochschmieder zeichnet diese Frau als ambivalenten Charakter. Letztlich macht Lilo ihre eigene Opfer-Vergangenheit zu Geld, mit dem sie in eine neue Zukunft investiert: Lilo‘s Diner orientiert sich am amerikanischen Traum, den damals die meisten Deutschen träumten. Auch Reni, die zwar erste Versuche unternommen hat, die Geschichte zu begreifen, aber daran scheitert. In New York will sie aber ihre eigene Vergangenheit als „Laufstegmädchen“ abschütteln. Sie will lernen, sie selbst zu sein, nachdem Fred mit seiner Modenschaugesellschaft viel zu lange über ihr Leben bestimmt hat.
Mit großem Abstand
Allerdings gönnt Christine Kochschmieder auch Reni kein Happy Ende. Ihr deutsches Image bleibt an ihr kleben und damit auch ihre deutsche Geschichte. Erstaunlich, wie tiefgründig aber auch atmosphärisch die 52-jährige Autorin über diese Zeit zu schreiben weiß, die sie selbst nie erlebt hat. Aber womöglich muss man so einen großen zeitlichen Abstand haben, um sich mit der ganzen klebrigen Verlogenheit der sogenannten Wirtschaftswunderjahre emotionslos auseinandersetzen zu können.
Hineingelesen…
… in Harrys Erinnerungen
Von Berlin aus gesehen war das Getto Litzmannstadt 1943 der größte Konfektionsbetrieb im Deutschen Reich. In einem der beiden Jahre, die Harry in Litzmannstadt verbracht hat, lagen die Umsätze, die die Textilabteilung mit zivilen Aufträgen erwirtschaftet hat, sogar über denen der Rüstungsindustrie. Die Auftragvergabe an die Hersteller und die Zuteilung von Stoffen und Kleidungsstücken oblag der Zentrallagermeinschaft für Bekleidung, gegründet von Josef Neckermann und Georg Karg. Harry erinnert sich an die Namen in den Auiftragsbüchern der Wirtschafts- und Ernährungsstelle Litzmannstadt. Felina. Spiesshofer & Braun. Josef Neckermann. Rudolf Karstadt. Heinrich Leineweber. C&A. Unternehmen, mit denen er heute wieder korrespondiert. Nur der Briefkopf hat sich geändert.
Es gibt Dinge, an die er sich erinnern darf. An den Bahnhof Radegast darf er sich erinnern als Bahnhof, über den Rohstoffe und Lebensmittel angeliefert und fertige Produkte abtransportiert wurden. Und es gibt den Bahnhof Radegast, an den er sich nicht erinnern darf. Zu den Dingen, von denen er nicht genau weiß, ob er sich daran erinnern darf, gehören die mit den Ordnungszahlen von 0270 bis 0278 gekennzeichneten Abteilungen der Wirtschaftstelle und ihre beeindruckenden Listen, die geführt wurden, um die misstrauischen Stellen zu Hause im Reich und in den Ministerien von der Kriegswichtigkeit und Unentbehrlichkeit des Gettobetriebs zu überzeugen…
In den mit den Ordnungszahlen von 0270 bis 0278 gekennzeichneten Abteilungen der Wirtschaftsstelle, von denen er nicht weiß, wie genau er sich daran erinnern darf, saßen der Josef, der Hermann, der Erich, der Wilhelm, der Walter, die Elisabeth, der andere Wilhelm und der Paul. Und die Emmy, die Frau vom Josef. Verdiente Leute der Verwaltung, von denen er ziemlich sicher ist, dass er sich nicht daran erinnern darf, dass ihnen der Verkauf von Porzellan und Kristallen, Nickel- und Silberuhren und versilberten Bestecken bevorzugt und zu Vorzugspreisen angeboten worden ist. Namen, deren Nachnamen er nicht mehr wissen darf, wenn sie ihn fragen, deren Aufenthaltsort er nicht kennen darf, wenn sie ihn fragen, die er seitdem nicht mehr gesprochen hat, wenn sie ihn fragen, und an deren Funktion er sich nicht mehr erinnern darf, wenn sie ihn fragen.“
Info. Christine Kochschmieder, Frühjahrskollektion, Kanon, 288 S., 24 Euro
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