Am Ende der Sprachlosigkeit

17. März 2024

Als „Klimaroman“ wurde das erste Buch von Franziska Gänsler gefeiert, das in einer nahen Zukunft spielt in der Brände und Atemmasken an der Tagesordnung sind. Jetzt also der zweite Roman der gebürtigen Augsburgerin „Wie Inseln im Licht“. Kein Umweltroman, wie vielleicht zu erwarten. Eine Familiengeschichte, die um ein großes Rätsel kreist. Und wie im ersten Roman spielen auch hier die Frauen die Hauptrolle.

Bruchstücke der Erinnerung

Die Ich-Erzählerin Zoey ist nach dem Tod ihrer Mutter an die französische Atlantikküste zurückgekehrt, wo sie als Kind mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester Oda eine Zeitlang gelebt hat – in einem Wohnwagen auf einem abgelegenen Campingplatz. 20 Jahre ist das her, entsprechend bruchstückhaft sind die Erinnerungen der jungen Frau an diese Zeit, wie „Inseln im Licht“. Aber vieles kommt zurück „wie Schnüre rollen sich die Erinnerungen in mir auf“: „die Wärme in unserem Bauwagen, Oda im Bett, kalte Handtücher, die die Mutter um ihre Waden schlug“, die Lichter im Wald, goldene Lichter und Gesang.

Das rätselhafte Verschwinden

Jetzt ist sie hier, um die Asche der verstorbenen Mutter im Meer zu verstreuen. Aber noch mehr treibt sie die Erinnerung an die Schwester um, die plötzlich verschwand. Danach zog die Mutter mit Zoey in die Stadt, sie sprach nie wieder von Oda und zog sich immer mehr in sich selbst zurück, bis Zoey sie nähren musste wie ein Baby. Dann starb sie und ließ die Tochter mit dem Rätsel um Oda allein. Auch der ferne Vater kann oder will Zoey nicht weiterhelfen.

Hilfreiche Frauen-Kompetenz

Die junge Frau ist ratlos. Wie kann es sein, dass ein kleines Mädchen spurlos verschwindet und es niemanden interessiert? Hat sie sich schuldig gemacht? Und warum nur war die Mutter so sprachlos? Zoey weiht Marlene aus ihrem Hotel in ihre Suche ein. Die beiden Frauen finden zueinander, und auf dem Campingplatz kommt Unterstützung von der jungen Influencerin Kitty und ihrer klugen Großmutter. Die alte Frau, ehemals einflusssreiche Juristin, wird von der Enkelin als Mme Future inszeniert. Aber sie ist trotz ihrer Hinfälligkeit noch ganz fit im Hier und Heute und sorgt dafür, dass Zoey endlich die Wahrheit erfährt und Abschied nehmen kann.

Kunstvolles Erzähl-Gespinst

Franziska Gänsler, die nach dem Abitur in Augsburg Modedesign und Malerei studiert hat und in Wien als Kunstvermittlerin gearbeitet hat, macht keinen Hehl daraus, was sie inspiriert hat: Tracey Emins Videos, die Truman Show, der Fall der kleinen Madeleine McCann, die aus einer Ferienwohnung an der Algarve verschwand, die Darstellung der Pietà in der Kunst. All das webt sie kunstvoll ein in ihr Erzähl-Gespinst. Sie kann das. Mit feinen Andeutungen angstvolle Erwartungen wecken, mit kurzen Sätzen in die Tiefe gehen. Ein sprachmächtiger Roman über Sprachlosigkeit und das schwierige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.

Hineingelesen…

… in die Erinnerung an die Mutter

Wie schnell die Dinge umbrechen, denke ich. Wie kurz es erst her ist, dass die Mutter das Zentrum all meiner Überlegungen war, ob sie getrunken hat, ob sie es allein zur Toilette schaffen wird, das Googeln dazu, ob ihr Liegen zu Thrombosen führen kann und wie es diese zu erkennen gilt. Das Waschen ihrer Füße, all diese Körperlichkeiten. Und jetzt sitze ich in diesem fremden Auto, und ich rieche noch Marlène an meiner rechten Hand, weil ich nicht im Meer war und nicht geduscht habe, und ich schmecke sie noch und ich sehe ihre Knie unter dem Lenkrad und das Licht, das darüber gleitet und über ihren Bauch wandert, und ihre Wangenknochen und die Sonnenbrille und das braune, lange Haar.

Das ist der Tag, an dem der Körper meiner Mutter komplett verschwinden wird. Noch gibt es ihn. Haare, Haut, Organe, Augen. Ich denke an all die Einzelheiten dieses Körpers, aus dem ich gekommen bin, der mich ernährt hat, den ich ernährt habe. Die Mutter. Die Rillen ihrer Nägel, die Form des Nagelbetts. Der Flaum auf ihren Ohrläppchen und Schläfen. Die Nasenwurzel, die Nasenspitze. Die Zähne, der rechte obere Schneidezahn, der, seit ich denken kann, eine kleine graue Schiere trug, der einmal gebrochen sein musste, aber ich weiß nicht, wann und wie. Ich denke an ihren Geruch, bevor er überdeckt war von der süßen Chemie der Nährlösung. Daran, dass dieser schon seite Tagen von ihrer kalten Haut verflogen sein muss. Und daran, dass er noch in der Wohnung hängen wird, wenn ich irgendwann dorthin zurückkehre. Ich denke an all diese vertrauten Details von ihr, setze die Mutter in mir aus ihnen zusammen, eine ganze Mutter, in diesem Körper, den sie selbst zum Verschwinden gebracht hat.

Info Franziska Gänsler. Wie Inseln im Licht, Kein und Aber, 256 S., 23 Euro

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