Eine Idee nimmt Gestalt an
Rezensionen / 22. Februar 2018

Gleich vorneweg. Wer diesen ersten Band von Haruki Murakami liest, kommt um die Fortsetzung nicht herum. Zu viele Erzählstränge sind noch offen, zu groß ist die Neugier, ob der Autor die Balance zwischen Ost und West, zwischen Realität und Magie aufrechterhalten kann. Murakami schlüpft in „Die Ermordung des Commendatore“ in die Figur eines minder begabten Malers, der im Haus eines Freundes Zuflucht findet, nachdem ihn seine Frau verlassen hat. Der Porträtmaler droht am Auftrag zu scheitern  In dem Haus am Berg, in das er sich nach einer längeren Irrfahrt zurückzieht, hat dessen Vater, ein berühmter Maler, gelebt, bevor er an Demenz erkrankte. Der neue Bewohner, der als Porträtmaler relativ erfolgreich war, verdient seinen Lebensunterhalt inzwischen mit Kunstunterricht für Laien. Da sucht ihn eines Tages ein schon etwas älterer Herr auf, der ihm einen unvernünftig hohen Preis bietet, wenn er von seinem Vorsatz, nie wieder Porträts anzufertigen, abrückt und ihn malt. Nach einigem Überlegen nimmt er den Auftrag an – und steht vor unerwarteten Problemen. Es will ihm kein aussagekräftiges Porträt gelingen – fast so, als hätte der Mann mit dem auffallend weißen Haarschopf kein Gesicht. So wie der Porträtkunde im anfänglichen Alptraum. Das Rauschen der Zeit unter der Oberfläche  Murakami…

Road Movie für Heavy Metal Fans
Rezensionen / 21. Januar 2018

Das muss man dem Franzosen Grégoire Hervier schon lassen. Er versteht sein Handwerk und hat sein Thema gründlich recherchiert. Der Roman „Vintage“ dreht sich um Kult-Gitarren und lädt zu einer Zeitreise bis zu den Anfängen der Blues- und Rockmusik, die Hervier bis in die 1920er Jahre zurückdatiert. Das Ganze verpackt in eine kriminalistische Spurensuche, die den Helden, einen mäßig erfolgreichen Pariser Musikstudenten und Journalisten namens Thomas Dupré, über den großen Teich und bis nach Australien führt. Eine Prise Okkultismus und schwarze Magie Der ohnehin schon spannende Roadtrip wird durch Anspielungen auf Okkultes und finstere Machenschaften noch aufregender: „Ich war auf der Suche nach der wertvollsten Gitarre aller Zeiten, einem fluchbeladenen Instrument, das hervorbrachte, was so manchen als Musik des Teufels galt.“ Auch der Auftraggeber dieser Suche, ein angeblicher Lord Winsley, der in einem Landhaus wohnt, das Jimmy Page von Led Zeppelin gehört und in dem der schwarze Magier Aleister Crowley eine Zeitlang als Laird of Boleskine residiert hatte, ist eine zwielichtige Figur. Doch sein Auftrag, den verschollenen Prototyp der „Moderne“, eine wertvollen Gitarre aus dem Hause Gibson, zu finden, ermöglicht Thomas nicht nur eine Weltreise, sondern macht es ihm auch möglich, in die Gründungsmythen der Rockmusik einzutauchen. Der Mythos der…

Vorbei gelebt
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Vier Jahre am Fließband die Drehmaschine überwachen und weitere achtundzwanzig auf einem Gabelstapler – das bin ich… Ein Roboter, kein Mensch. Ein mechanischer Arm, kein Herz.“ Der Ich-Erzähler ist ein älterer Mann, der sein Leben verpasst hat – zuerst in der Fabrik, dann im Gefängnis. Wie es dazu kam, davon erzählt Marco Balzano in dem Roman „Das Leben wartet nicht“. Eine Kindheit in extremer Armut Alles beginnt Ende der Fünfziger Jahre in einem sizilianischen Dorf, wo der kleine Ninetto, so heißt der Erzähler, aufwächst, in extremer Armut. Den Spitznamen Pelleossa, Haut und Knochen, behält er sein Leben lang. Der Kleine ist ein guter Schüler, er hätte womöglich eine bessere Zukunft vor sich; aber nach dem Schlaganfall seiner Mutter schickt ihn der gewalttätige Vater nach Mailand, um Geld zu verdienen. Nach der Strafe ist das Leben ein anderes  Der Bub wurstelt sich so durch, geht mit 15 in die Fabrik, heiratet und wird Vater einer Tochter. Jahre später bringt ihn ein unglücklicher Zwischenfall ins Gefängnis. Als er seine Strafe abgebüßt hat und wieder frei kommt, erkennt er, dass das Leben nicht auf ihn gewartet hat. Seine Tochter hat den Kontakt mit ihm abgebrochen, die Enkelin kennt ihn nicht einmal. Das bittere…

Die Verständnisvolle
Rezensionen / 19. Januar 2018

„Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut.“ Was die Mutter über die kleine Olga gesagt hat, könnte auch für die erwachsene und später die alte Olga gelten. Und doch ist diese scheinbar so angepasste Olga eine starke Frau, eine Frau, die sich durchsetzt gegen alle Widrigkeiten. Olga will nur ihren Herbert  Eine einzige große Liebe gibt es in ihrem Leben: Herbert, der Sohn des Gutsherrn. Die Verbindung ist aussichtslos, denn Olga kommt aus armen Verhältnissen und Herberts Eltern würden sie nie als Schwiegertochter akzeptieren. Und doch überlebt diese Liebe, denn Olga lässt Herbert seine Freiheit und seine Abenteuer, ja sie lässt ihm auch seinen „Herrenstolz“, will nichts wissen vom Schlachtfeld in Namibia und dem Mord an den Herero, will nur ihren Herbert, sein Strahlen, seine Begeisterung. Die Heldenträume enden in der NSDAP Doch dann bricht Herbert auf zu einer Expedition ohne Wiederkehr, und Olga bleibt mit ihren Erinnerungen zurück – und mit dem kleinen Eik, dem sie Herbert als Helden präsentiert – so lange, bis der Junge selbst Heldenträume träumt und in die NSDAP eintritt – gegen Olgas Wunsch und Vorstellung. Aber sie hat bald ohnehin nichts mehr zu sagen, verliert nach einem Fieber ihr Gehör und…

Mit 30 in der Krise
Rezensionen / 13. Januar 2018

Irgendwie hat Barbara Kenneweg das mit der Midlife-Krise falsch verstanden. Die Generation Y ist noch lange nicht soweit. Oder doch? in ihrem Roman „Haus für eine Person“ nimmt sich die 46-Jährige der Generation Y an, verkörpert durch Rosa Lux. Die 31-Jährige leidet an ihrem Leben, sie hat sich von ihrem Freund getrennt und ist aufs Land gezogen. Die Nachbarschaft überfordert  Weg aus der Berliner Tristesse, zurück zur Natur, dahin wo die Nachbarn einander noch kennen. Doch auch da ist die junge Frau überfordert. Im Einkaufszentrum überfällt sie die Erkenntnis: „Ich vertrage die soziale Realität nicht, bin ein Snob.“ Ein Snob ohne Geld und ohne Job. Ihre Gedankenmonologe kreisen vor allem um sich selbst, daran kann auch eine unverhoffte Schwangerschaft nichts ändern. Sie macht Rosa nur noch träger. Die Schwangerschaft noch mehr  Die junge Frau  kann sich zu nichts aufraffen, weder dazu, die nette alte Nachbarin im Krankenhaus zu besuchen, noch dazu, sich auf die Geburt vorzubereiten. Auch wenn die Leser ihren Kulturpessimismus zeitweise teilen können – da liefert Kenneweg einiges mit Wiedererkennungswert – die penetrante Larmoyanz Rosas, ihre fast schmerzhafte Trägheit nerven mit der Zeit, überfordern die Empathie. Erst recht zum Schluss, als Rosa ihr Baby zur Welt bringt –…

Mutmacher für Väter
Rezensionen / 13. Januar 2018

„Unser Alltag besteht aus verpassten Umarmungen. Aber im Grunde ist das alles nur Taktik, damit die unerwarteten Umarmungen dann umso schöner sind.“ Matteo Bussola hat sich eingerichtet im Vater- und Ehemann-Sein. Der studierte Architekt hat drei Töchter – Virginia, Ginevra und Melania – und verdient inzwischen sein Geld als Comic-Zeichner.  Die kleinen Mädchen sind neugierig, frech und trotz aller Einschränkungen, die drei Kinder für die Partnerschaft bedeuten, Vaters Lieblinge. Warum das so ist, hat Bussola auf Facebook dokumentiert und mit seinen Alltags-Posts jede Menge Menschen begeistert. Denn die drei kapriziösen Persönchen haben ihre ganz eigenen Ansichten vom Leben, von der Liebe und vom Jenseits. Dass Erwachsene der kindlichen Logik nur wenig entgegenzusetzen haben, schildert Bussola  in vielen kleinen Episoden – manche eher banal, andere witzig, die meisten anrührend.  Der Italiener hat viel gelernt von seinen Töchtern – auch über sich selbst. Er hat gelernt, früh aufzustehen, um wenigstens ein paar Stunden Zeit für sich und seinen Job zu haben. Er hat gelernt, sein Bett nicht nur mit einer Frau, sondern hin und wieder auch deren mehreren zu teilen. Er hat gelernt, auch auf die skurrilsten Fragen Antworten zu finden. Und er bewundert seine Töchter, die für ihn kleine Philosophinnen sind,…

Auch die Kleinsten haben Gefühle
Rezensionen / 3. Dezember 2017

Lesen ist wichtig – auch in der heutigen, der digitalen Welt. Und ist es nie zu früh, Kinder für Bücher zu begeistern. Psychologen raten gar werdenden Müttern, ihren ungeborenen Babys vorzulesen. Wenn die Kleinen dann auf der Welt sind, gibt’s für inzwischen wunderbare Papp-Bilderbücher, in denen Kleinkinder ihre Welt wieder erkennen. „Ich bin jetzt…“ heißt so eine Kinder-Wundertüte in Pappbilder-Buch-Form. Constanze von Kitzing zeigt kleine Szenen aus dem Alltag, die illustrieren, wie es sich anfühlt glücklich, wütend, stark, traurig, wild oder ängstlich zu sein. Anhand der Bilder können Eltern mit ihren kleinen Kindern darüber reden, wie es sich anfühlt, fürsorglich oder fantasievoll, mutig oder schlau zu sein und was es bedeutet, Freunde zu haben. Constanze von Kitzing hat schon früh gerne gezeichnet, am liebsten Prinzessinnen und Pferde. Inzwischen malt sie lieber schräge Charaktere in satten Farben. Ihre Kinderbücher sind international preisgekrönt und in 14 Ländern erschienen. Prinzessinnen und Pferde zeichnet die Illustratorin übrigens immer noch – aber nur auf sehr ausdrücklichen Wunsch ihrer Kinder. Info: Constanze von Kitzing. Ich bin jetzt … glücklich, wütend, stark, Carlsen, 12,99 Euro, www.carlsen.de. www.constanzevonkitzing.de Link zum animierten Film: https://www.youtube.com/watch?v=dQY9Op82lr0

Gegen den Strom
Rezensionen / 3. Dezember 2017

„Letztlich ist unsere Reise auch so ein Gegenentwurf, ein Gegenentwurf zu dem Touristenstrom, der sich durch den Rest Kopenhagens wälzt. Zu der Jetterei an die angesagtesten Destinationen dieser Welt.“ Die Journalistin Svenja Beller und der Fotograf Roman Pawlowski sind auch schon mitgejettet, waren am „Banana Pancake Trail“ in Südostasien, in Peru und in Nepal. Aber diesmal wollten sie alles anders machen, wollten sich treiben lassen – immer in Richtung Norden und teilhaben an fremden Leben. Das ist ihnen auch gelungen, sie haben jede Menge interessanter und teilnehmender Menschen kennengelernt, sind der Natur so nahe gekommen wie nie zuvor und haben auch erfahren, was es heißt zu scheitern. Gespräche öffneten Türen und Herzen Denn sie haben auf alles verzichtet, „was einen Filter zwischen uns und unsere Umgebung schiebt: Reiseführer, Smartphone, Laptop, Hotels, Vorrecherche“. Das hat sie vor manche Herausforderung gestellt, hat ihnen aber auch so manches Abenteuer beschert. Sich unbekannten Menschen aufzudrängen, fiel dem Paar nicht immer leicht, aber Gespräche öffneten vielfach Türen und auch Herzen. So reisen die beiden über Dänemark und Schweden bis weit hinauf in den Norden Norwegens, übernachten im eigenen kleinen Zelt, in Wohnwagen und Hütten, in Schlaf- und Wohnzimmern, am Strand und im Vorgarten – und…

Reise ins Unbekannte
Rezensionen / 26. November 2017

Anhand einer alten Landkarte macht sich die Journalistin Andrea Böhm auf, um aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen. Die „Erkundung auf vier Kontinenten“ führte zu dem Buch „Das Ende der westlichen Weltordnung“. Andrea Böhm ist ein politischer Mensch. Sie arbeitete als Redakteurin für GEO, ZEIT und taz. Ihre Reportagen wurden mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Als Nahost-Korrespondentin berichtet sie derzeit für Die ZEIT aus Beirut. Das muss man wissen, bevor man ihr Buch zur Hand nimmt. Denn Böhm ist nicht auf touristischen Wegen unterwegs – auch wenn Touristen ihr Buch unbedingt lesen sollten. Die Vergangenheit reicht bis in die Gegenwart Sie wagt sich in Gegenden, die vom Terror des IS bedroht sind, in Landschaften der Zerstörung, wo die Menschen in Ruinen hausen. Sie reist nach Somalia und nach Somaliland, das „für den Rest der Welt nicht existiert“. Sie trifft in Mogadishu und im chinesischen Guangzhou, im Libanon, in Palästina und im Irak auf Menschen, die sie durch ihren Lebensmut und ihr Engagement beeindrucken. Und überall stößt sie auf eine Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reicht, den zerstörerischen Kolonialismus, die Allmachtsfantasien der USA und noch weiter zurück das Erbe des Commonwealth. Das Auf und Ab der Geschichte Doch Böhm…

Sheherazade lässt grüßen
Rezensionen / 29. Oktober 2017

Einen seltsamen Deal bietet die alte Jean Culver der jungen Kate an: Ihre Familiengeschichte gegen deren Alkoholabstinenz. Denn Kate hat Probleme, ihr Leben auf die Reihe zu kriegen. Nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters bei Ashland & Vine hat sie ihr Studium geschmissen und lebt in einer schwierigen Beziehung mit dem exzentrischen Lauritz. Dass Kate sich auf den Deal einlässt, ist ein erster Schritt in ein neues, bewussteres Leben. Die Tiefpunkt der amerikanischen Geschichte John Burnside erzählt in dieser neuen Sheherazade-Adaption kein Märchen, sondern mit Jeans Familiensaga – eine verlorene Geliebte, der Neffe im Krieg verschollen, die Nichte im revolutionären Untergrund – auch die Geschichte Amerikas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und vor allem die verstörenden Tiefpunkte wie das Massaker von My Lai im Vietnamkrieg, die Kommunistenhatz der McCarthy Ära, die bombenden Weathermen. Über die Macht der Erzählung Im engen Austausch mit Jean in deren Haus im verzauberten Garten gewinnt Kates Leben wieder eigene Konturen. Wie Lauritz hat sie mehr in der Inszenierung als in der Realität gelebt. Es geht um viel in diesem mit großer Meisterschaft geschriebenen Roman: Um Identität und Idealismus, um Liebe und Engagement, vor allem aber geht es um die Macht der Erzählung und…