Seelischer Sprengstoff
Rezensionen / 21. Februar 2016

„Ich mein‘, wenn man sein ganzes Leben in die falsche Richtung läuft, kann’s trotzdem das Richtige sein?“ In seinem Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ gibt Benedict Wells keine einfache Antwort auf diese Frage. Er skizziert verschiedene Lebensentwürfe, die allesamt auf schlimmen Kindheitserinnerungen basieren. Und er zeigt, wie die jahrelang verdrängten Traumata unerwartet in den Alltag einbrechen und die dünne Schutzwand zerreißen können – seelischer Sprengstoff. „Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind“, heißt es in dem Buch. „Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“ Von diesem Feind und seiner Überwindung handelt  Benedict Wells‘ ebenso trauriger wie tröstlicher Roman. Sie wachsen behütet zwischen Deutschland und Frankreich auf und sind doch so unterschiedlich: Jules, der lustige Kerl, überall beliebt. Marty, der grüblerische Einsiedler und Liz, die Träumerin. Und dann kommen die Eltern bei einem Unfall ums Leben, die Geschwister werden auseinander gerissen und alles ist plötzlich ganz anders. Ausgerechnet Jules wird zum Underdog, während Marty sein Nerd-Sein mit Gleichgesinnten pflegt und Liz ihre Lebensgier mit Drogen und Sex auslebt. Wäre da nicht Alva, das stille rothaarige Mädchen mit der Brille, Jules wäre verloren. Daran erinnert sich der mittlerweile längst erwachsene Jules, inzwischen selbst Vater von Zwillingen, als er nach einem Motorradunfall…

Der König als Narr
Rezensionen / 10. Januar 2016

Friedrich Wilhelm I. regierte sparsam so wie er lebte. Und doch gab der Pfennigfuchser das Geld mit vollen Händen aus – fürs Militär, am liebsten für die „Langen Kerls“, die er sammelte wie andere Menschen vielleicht Zinnsoldaten. Mindestens 1,88 Meter groß sollten seine Riesen sein. Im damaligen Europa eher eine Seltenheit. Deshalb ließ der König jeden jungen Mann entführen, der auch nur annähernd dem Gardemaß entsprach. Dass er damit Familien auseinanderriss, Lebenspläne zerstörte, Menschen versklavte, kümmerte den Despoten nicht. Thomas Meyer hat mit „Rechnung über meine Dukaten“ eine Geschichte hinter der Geschichte geschrieben, urkomisch und weise. Auch Gerlach, ein Bauernsohn aus Sachsen, entspricht dem Gardemaß und wird entführt. Doch Gerlach will sich nicht mit seinem Schicksal abfinden und plant gemeinsam mit dem Norweger Hendrikson seine Flucht. Der König allerdings hat ihn für Größeres vorgesehen: Unter seinem Kommando soll eine „Gigantenrasse“ entstehen – mit Gerlach als Urvater und der großgewachsenen Bäckerstochter Betje als Urmutter. Gerlach und Betje mögen einander, sahen aber bislang keine Möglichkeit zusammenzukommen. Nun hat sie eine Grille des Königs vereint. Wie schon in seinem letzten Roman „Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme eine Schickse“ zeigt Meyer auch hier eine schier unbändige Fabulierfreude, wobei er sich genüssliche einer altväterlichen…

Mit Adleraugen
Rezensionen / 9. Januar 2016

Bayerische Paradiese: Ein Bildband zeigt Seen, Flüsse und Berge aus der Luft „Die Bilder holen den Himmel auf die Erde“, schreibt Tom Werneck im Vorwort zum Bildband „Bayerische Paradiese“, der grandiosen Luftaufnahmen von Jörg Bodenbender versammelt. Es sind vor allem die bayerischen Berge und Seen, die es dem Fotografen angetan haben. Sie porträtiert er in ihrer ganzen Schönheit: Die Seen wie blaue und grüne Augen in der Landschaft, die Berge Nebel umhangen, Schnee bestäubt, die Täler mit ihren Spielzeughäusern, den Menschlein und den geometrischen Feldern in gelb, grün und ocker. Bodenbender lädt den Betrachter ein, vom Himmel herab auf die Erde zu schauen – mit Adleraugen. Denn die Fotos sind gestochen scharf bis ins letzte Detail, besonders schön zu sehen bei den Booten auf dem funkelnden Wörthsee, der Pferdewallfahrt zum Kirchlein St. Coloman oder der Kampenwand im winterlichen Morgenlicht. Es sind Bilder, die nicht nur Bergfreunden das Herz aufgehen lassen. Bilder auch, die Bescheidenheit lehren, weil sie den Menschen nicht in den Mittelpunkt stellen, sondern ihm angesichts der überwältigenden Natur seine Bedeutungslosigkeit vor Augen führen. Ohne technische Hilfsmittel hätte auch der Fotograf diese Aufnahmen nicht machen können. Doch die schwierigen Umstände, allein mit einem Doppelsitzer und seiner Kamera auf Motivsuche…

Im Korsett der Konventionen
Rezensionen / 22. Dezember 2015

Ihr Roman „Zeit der Unschuld“ aus dem Jahr 1920 wurde mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, dennoch stand Edith Wharton immer im Schatten von Henry James. Zu Unrecht, wie die Neu-Übersetzung ihres Meisterwerks durch Andrea Ott zeigt. Wharton stellt einen jungen New Yorker der Oberklasse in den Mittelpunkt: Newland Archer steht kurz vor der Heirat mit der jungen, hübschen und ach so unschuldigen May Welland, eine von der einflussreichen High Society der damaligen Kleinstadt goutierte Verbindung. Doch dann begegnet er Mays unangepasster Cousine Ellen. Die Gräfin Olenska hat ihren ungarischen Mann verlassen und ist zu ihrer Familie zurückgekehrt, ein Skandal. Denn Frauen haben nach der vorherrschenden Meinung jener Zeit bei ihrem Mann auszuharren – in guten wie in schlechten Zeiten. Der junge Anwalt Newland ist fasziniert von der gereiften Frau, die als Kind seine Spielgenossin war. Ist es ihre dunkle Schönheit, die ihn anzieht, oder ihre obskure Vergangenheit? Die Begegnung mit der Gräfin Olenska und die unbarmherzige Kritik der feinen Gesellschaft an ihr sensibilisieren den jungen Mann für die Doppelmoral, in der es sich vor allem die Männer bequem gemacht haben. Er spürt das Korsett der Konventionen, das ihm die Luft zum Atmen zu nehmen droht. Spürt, wie die erstickende Enge…

Puppenspieler und Marionetten
Rezensionen / 22. Dezember 2015

Tamaso ist 16 und freut sich auf den Schulabschluss, den er mit seiner Familie feiern will, als er vom coronischen Geheimdienst abgeholt wird. Mit 19 Gleichaltrigen landet er in einem Ausbildungscamp, wo die Jugendlichen dafür gedrillt werden, in Flore, der gefährlichsten Diktatur der Welt zu spionieren. Tamaso landet als „Mechaniker“ im Haus des mächtigen Marschalls, wo Puppenspieler gerade ein altes florianisches Märchen proben. Dabei geht es um einen skrupellosen Alchemisten, der nach der Macht im Staat greift. Dazu hat er einen Klon des jungen Königs entwickelt und den echten König in eine mechanische Puppe eingesperrt. Nur die fünf Freunde des verwunschenen Königs fallen nicht auf den Tausch rein und wagen den Kampf gegen den allmächtigen Alchemisten. Während Tamaso staunend die Inszenierung verfolgt, wird er Zeuge, wie im Keller des Hauses Gegner des Marschalls gefoltert und ermordet werden. Die Wirklichkeit in Flore scheint sich immer mehr dem Märchen anzunähern. Wie die fünf Freunde des jungen Königs müssen auch Tomaso und vier Freunde, darunter die Zwillinge Silvan und Kester, gegen einen übermächtigen Feind kämpfen. Wie der junge König, der im Klon sein Spiegelbild erkennt, sind die Zwillingsbrüder kaum voneinander zu unterscheiden. Dabei ahnen die Protagonisten nicht einmal, wie sehr sie den Marionetten…

Nostalgia: Metaphern der Vergänglichkeit
Rezensionen / 21. Dezember 2015

Er ist ein Schatzsucher mit der Kamera. Seine Schätze findet der in Xanten geborene Sven Fennema überall in Europa, wo Menschen gelebt haben und gegangen sind. Fennema ist auf der Suche nach verlassenen Orten, nach Stätten der Vergänglichkeit, Zeugen einer verlorenen Zeit. Der schwergewichtige und luxuriös aufgemachte Bildband „Nostalgia“ versammelt die Fotografien solcher „lost places“ in Italien. Es sind Bilder, die Geschichten erzählen, wie die Italienkennerin und Autorin Petra Reski gleich zu Anfang schreibt, suggestive Bilder, die den Betrachter hineinziehen in verfallende Paläste, in verrottende Pracht und verwaiste Krankensäle. Bilder, die ihm die Vergänglichkeit vor Augen führen auch anhand industrieller Hinterlassenschaften. Das ganze Buch ist menschenleere Bühne und gerade deshalb von einem fast magischen Zauber. Petra Reskis Geschichten und Zitate italienischer Dichter tragen das Ihre zu diesem Zauber bei, füllen sie doch die entleerten Bilder mit gespenstischem Leben, wecken Träume und Assoziationen. Man könnte sich verlieren in diesen Dokumenten einer verlorenen Zeit, blättert staunend durch die Seiten und wundert sich, wie schön Verfall sein kann. Info: Sven Fennema, Petra Reski: Nostalgia – Orte der verlorenen Zeit, Frederking & Thaler, 320 S., 98 Euro,  http://www.frederking-thaler.de/titel-16186-nostalgia_157.html

Facetten der Wahrheit: Drago Jancars neuer Roman
Rezensionen / 8. Dezember 2015

Die französischen Kritiker kürten Drago Jancars Roman „Die Nacht, als ich sie sah“ zum besten fremdsprachigen Roman des Jahres, auf der ORF-Bestenliste steht das Buch des slowenischen Autors, das ins Jugoslawien des Jahres 1944 zurückführt und auf einer wahren Begebenheit beruht, im Dezember auf Platz 1. Zu Recht: Jancar hat einen raffiniert konstruierten Roman um das Schicksal der jungen, kapriziösen Veronika geschrieben, in dem es um Liebe und Verrat geht, um die Lust am Leben in Zeiten des Krieges und um die seelische Verrohung der Kämpfer auf allen Seiten. In einer Winternacht holt eine Gruppe von Tito-Partisanen die junge Frau und ihren Mann, der sowohl zu den Deutschen wie auch zu den Partisanen Kontakt hält, aus ihrer Burg in Oberkrain. Seither verlieren sich die Spuren der beiden, aber es gibt Gerüchte zu ihrem Verschwinden. Aus den Erinnerungen von fünf Personen, die Veronika auf unterschiedliche Weise nahe waren, setzt Jancar das Bild einer lebenshungrigen aber auch naiven Frau zusammen. Die Reihenfolge dieser sehr persönlichen Sichtweisen bringt immer neue Facetten und „Wahrheiten“ ans Tageslicht und führt schließlich zur Aufklärung des Falles. Am wenigsten kann Major Stevo dazu beitragen. Der Kavallerieoffizier des serbischen Königs, um dessentwillen Veronika für einige Zeit ihren Ehemann verließ,…

Erstickende Nestwärme
Rezensionen / 26. November 2015

In Jerusalem hatte die Spiritualität der Chassidim, der orthodoxen Juden, sie fasziniert, die Gemeinschaft, in der sie sich und ihre Liebe zu Chaim aufgehoben fühlte. In London, wo Chaim als angesehener Rabbi tätig ist und nach den Buchstaben jüdischer Gesetze lebt, wird es für Rebekka zunehmend schwerer, diese Faszination nach zu empfinden. Vor allem nach einer Fehlgeburt, bei der Chaim als Mann kläglich versagt hat. Mit seiner Rigorosität zerstört er auch das Leben seines Sohnes Avromi, der sich nach den Freiheiten sehnt, die seine nicht-jüdischen Mitstudenten genießen. Während Avromis Freund Baruch um das Mädchen Chani wirbt, macht Avromi erste sexuelle Erfahrungen mit der selbstbewussten Shola und stellt sich damit außerhalb der jüdischen Gemeinde. Was die denkt, ist das Wichtigste. Daran halten sich alle in Eve Harris Romandebüt „Die Hochzeit der Chani Kaufmann“. Auch Chanis und Baruchs Eltern leben nach den strikten Regeln dieser Gemeinde. Es ist eine geschlossene Gesellschaft, in der jede Indidualität im Keim erstickt wird, in der jeder Zweifel schon als Rebellion gilt. Wie soll da eine Liebe gedeihen? Chani und Baruch müssen vor ihrer Hochzeit gegen die Widerstände ihrer Familien kämpfen und nach der Hochzeit darum, zu einander zu finden. Wie einfühlsam Eve Harris die Probleme der…