Kämpfen statt träumen
Rezensionen / 8. November 2016

Im syrischen Aleppo tobt ein erbarmungsloser Krieg. Hunderttausende von Menschen sind eingeschlossen und hilflos den Bomben ausgeliefert. Doch während die ganze Welt auf diese gequälte Stadt starrt, ereignen sich in den Dörfern Dramen, bei denen ganze Familien ausgelöscht werden. Mit ihrem Roman „Tränen unter dem Granatapfelbaum“ will die Journalistin Vanessa Altin auf diese vergessenen Tragödien aufmerksam machen und denen eine Stimme geben, die längst voller Verzweiflung verstummt sind. Der Terror der Rattenmänner „Rattenmänner“ nennen die kurdischen Kämpfer die Männer vom IS, die den Bürgerkrieg in Syrien für ihre eigenen Zwecke nutzen und die Zivilbevölkerung terrorisieren. Das Mädchen Dilvan, Dilly genannt, ist mit ihren 13 Jahren eigentlich viel zu jung, um sich in den Kampf zu stürzen. Aber seit sie mit ansehen musst, wie ihre Mutter und ihre Schwester von den IS-Terroristen mit Stockschlägen auf einen Laster getrieben wurden und einer der Männer das Baby der Familie brutal zum Köpfen zerrte, kann sie nur mehr an Rache denken. Und daran, wie sie dabei helfen könnte, ihren Heimatort von den Rattenmännern zu befreien. Ihr großes Vorbild ist die mutige Kämpferin Rehana, die selbst hart gesottene IS-Krieger das Fürchten lehrt. Während gleichaltrige Mädchen in unseren Breiten vom neuesten iPhone träumen, träumt Dilly davon,…

Roadmovie mit Taxi
Rezensionen / 17. Oktober 2016

„Im Laufe des letzten Jahres hatten wir an den unmöglichsten Orten übernachtet: an russischen Crack-Buden, auf Grünstreifen in Industrieanlagen oder auf Artilleriefeldern im Iran…“ Ja, die drei Jungs aus Großbritannien haben sich so manches getraut, wovon normale Touristen“ nicht mal träumen würden. Die Idee, mit einem Taxi um die Welt zu fahren, wurde nach einer alkoholgeschwängerten Nacht im Pub geboren, und Alkohol fließt auch auf der Fahrt mit dem altersschwachen London Black Cab, das die drei abenteuerlustigen Freunde Johno, Leigh und Paul auf den Namen Hannah taufen, immer wieder in Strömen. Zwei Guinness-Rekorde bei der Weltumrundung Dass sie es trotzdem schaffen, mit ihren Taxi auf einen der höchsten Punkte der Erde zu fahren, das Everest Basis Camp, brachte ihnen einen Guinness Record ein, den anderen gab es für die längste Taxifahrt der Welt. Wer das Buch, das aus der Weltumrundung entstanden ist, liest, wird den Dreien ihren Rekord wohl kaum streitig machen. Dass sie die Fahrten durch den Irak und Pakistan ebenso überlebt haben wie den mörderischen indischen Verkehr oder die Hitzerekorde in Australien, war pures Glück. Und nicht jeder möchte bei seiner Reise als Couchsurfer bei fremden Menschen auf dem Fußboden pennen, sich von Einheimischen einladen lassen oder wegen…

Weltschatten: Am Abgrund
Rezensionen / 4. Oktober 2016

„In dem Augenblick, in dem du eine Idee in das trübe Wasser dieser Welt tauchst, wird sie, so phantastisch sie auch sein mag, besudelt.“ Von dieser Besudelung großer Ideen erzählt der Israeli Nir Baram in seinem ambitionierten Roman „Weltschatten“. Es geht um das große Ganze: die Auswüchse der Globalisierung, darum, wie alles zusammenhängt, um die unheilvollen Verflechtungen von Wirtschaft und Politik – und um das Ende der Ideale. Baram erzählt seine komplexe Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in drei Erzählebenen. Früher rabiat und rebellisch, später erfolgreich und korrupt Per E-Mail-Verkehr lässt er etablierte und längst korrumpierte Mitarbeiter einer weltweit agierenden Beraterfirma zu Wort kommen; in der dritten Person erzählt er von einem naiven Israeli, der in die Fallen des Großkapitals stolpert und im Kokon der Wohlhabenheit charakterlich verwahrlost. Und dann ist da noch ein namenloser Ich-Erzähler, der sich mit einer Gruppe von jungen Chaoten zusammengetan hat, die einen weltweiten Streik organisieren wollen. Rabiat und rebellisch wie sie waren früher einmal auch die Berater, doch die Saturiertheit hat sie blind gemacht für alles, was außerhalb ihrer Geschäfte liegt, auch für die Menschlichkeit – bis auf einen, der zum Whistleblower wird. Da ahnt man schon, wie die einzelnen Bauteile sich zu einem…

de Winter und die Weltgeschichte
Rezensionen / 4. Oktober 2016

Er weiß, wie er seine Leser dran kriegt, auch wenn er ihnen eine hanebüchene Geschichte auftischt. Leon de Winter ist ein Meister der spannenden Erzählung, und dabei scheut er sich auch nicht, die Realität umzuschreiben. Das gilt besonders für seinen neuen Roman „Geronimo“. Doch diesmal treibt es der Niederländer zu bunt. Denn Winter wagt sich an die Weltgeschichte. Geronimo war das Codewort für die Aktion Bin Laden Geronimo lautete das Codewort für die Aktion Usama Bin Laden, bei der der Gesuchte ums Leben kam. Doch was wäre, wenn die Geschichte lügt? Wenn bin Laden überlebt hätte? Dank eines Komplotts? Das ist die Ausgangsbasis für de Winters Roman. Im Mittelpunkt steht der nicht mehr aktive Navy Seal Tom Johnson. Vorwiegend aus seiner Sicht erzählt Leon de Winter eine Geschichte um Verlust und Liebe, um Verrat und Verantworung, um die Macht der Musik und die Machtspiele der Politik. Zum Gradmesser der Menschlichkeit wird das Mädchen Apana, das über Bachs Goldberg-Variationen Glück erfährt und von den Taliban deswegen verstümmelt wird. Johnson, der Apana mit Bach vertraut gemacht hat, fühlt sich für sie verantwortlich. Aber auch einem anderen wächst die schöne Verstümmelte ans Herz: Usama bin Laden, der hier menschliche Züge zeigen darf, nimmt…

Flüchtlinge in unserer Welt
Rezensionen / 22. September 2016

Beim ersten großen UN-Gipfel zum Thema Flucht und Migration diskutierten die 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen über den Umgang mit Flüchtlingen und Migranten. Die Themen Flucht und Integration haben nicht nur die Ergebnisse der Landtagswahl in Mecklenburg Vorpommern und der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus bestimmt, sind nicht nur Stammtischgespräche, sie beeinflussen auch den Tourismus und unsere Zukunft. „Wie die neue Völkerwanderung die ganze Welt verändert“ ist der Untertitel eines informativen Buches von Weltreporter.net, das sich mit der „Flüchtlingsrevolution“ in allen Erdteilen beschäftigt. Klar gestellt wird zunächst der Begriff „Flüchtling“ als „derjenige, der geht, obwohl er lieber bleiben würde“. Auch in den Traumzielen der Touristen sind Flüchtlinge Alltag Und mit solchen Flüchtlingen hat es die Welt auf allen Kontinenten zu tun, auch in den Traumzielen der Touristen: In Lateinamerika ebenso wie in Asien, in Australien wie in Kanada oder den USA. Keineswegs nur in Europa, wo die Weltreporter ein gefährliches Anwachsen der Fremdenfeindlichkeit registrieren aber durchaus auch viel Menschlichkeit schildern, die zu Hoffnung Anlass gibt: „Die Welt nach der Flüchtlingsrevolution kann eine solidarische Welt sein, eine gerechtere, eine vielfältigere, in der wir viele der Krisen von heute hinter uns gelassen haben werden.“ In den einzelnen Kapiteln begleiten die Weltreporter die Flüchtlinge…

Unterleuten: Dörfliche Abgründe
Rezensionen / 15. September 2016

„Je mehr ich erfuhr, desto stärker erinnerte mich die Geschichte an mein Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop, in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus… Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.“ Es ist eine Journalistin, die am Ende der 600-seitigen Dorfchronik Unterleuten Bilanz zieht. Juli Zeh hat sie erfunden wie die Dorfbewohner auch. Ihr Unterleuten ist ein fiktives Dorf in Brandenburg, wo man – wie der Titel andeutet – unter Leuten ist, also selten allein. Und diese Leute sind allesamt seltsam, sowohl die Zugezogenen als auch die Einheimischen. Juli Zeh beschreibt ihr Dorf als Mikrokosmos, bevölkert es mit frustrierten Wendeverlierern und naiven Aussteigern. Was den Zugezogenen zunächst als Idylle erscheint, die Ruhe und Natur verspricht, birgt für die, die seit jeher dort wohnen, eine Menge unbewältigter Konflikte. Die Idylle kippt, die Dorfgemeinschaft zerbricht Als ein Windpark gebaut werden soll, eskaliert die uralte Fehde zwischen den beiden verstockten Dorf-Chefs. Auch die Aussteiger stecken plötzlich mittendrin in dem Dorf-Krieg – und sie müssen sich entscheiden. Der glücklose Akademiker, der mit Frau und Baby aufs Land gezogen ist, um sich fortan als Vogelschützer der Natur zu…

Bobby: Vom Verlust der Sicherheit
Rezensionen / 9. September 2016

Es war die Katastrophe, die Amerika verändert hat. Als die Türme des World Trade Centers in sich zusammenbrachen, zerstob auch der Glaube der US-Amerikaner an die grenzenlosen Möglichkeiten der Nation. 9/11 bleibt im kollektiven Gedächtnis der USA als eine Art Wendepunkt. Doch nicht nur die Nation wurde ins Mark getroffen, auch viele Familien müssen seither mit dem Verlust eines geliebten Menschen leben. So wie die Amendolas. Eine Familie im Ausnahmezustand In seinem Romandebüt „Bobby“ beschreibt der studierte Jurist Eddie Joyce, wie die Familie mit diesem Verlust umgeht und welche Folgen er hat. Bobby ist der jüngste Sohn von Gail und Michael Amendola, ein Sonnyboy. Zumindest sieht ihn die Mutter im Rückblick so. Wie sein Vater engagierte er sich bei der Feuerwehr in New York und als Sportler, allerdings nicht beim Football, sondern beim Basketball – gegen den Willen von Michael. Denn natürlich hat auch der Jüngste seinen eigenen Kopf, so wie der Älteste Peter, der studiert hat und weggezogen ist von Staten Island, um als Anwalt erfolgreich zu sein. Oder wie Franky, der Mittlere, der nicht so recht in die Gänge kommt. Alles läuft eigentlich so wie es laufen sollte – mit größeren und kleineren Problemen. Familienalltag eben. Bis zu…

Elanus: Superhirn mit Drohne
Rezensionen / 22. August 2016

Mit ihren Jugendbüchern war die Wiener Autorin Ursula Poznanski oft genug ihrer Zeit voraus. Diesmal hat es nicht so ganz geklappt. Denn Drohnen sind schon jetzt keine Seltenheit. Vor kurzem erst ist eines der Flugobjekte unter meinem Fenster gecrasht. Und bei meiner letzten Reise auf Mauritius war eine Kollegin dabei, die ihre Drohne auf Fototour schickt. Nerviger Typ Elanus hat also viele Geschwister. Doch die wenigsten sind wohl so auf das Ausspähen anderer programmiert wie er. Der 16-jährige Jona, ein intellektueller Überflieger und Klugscheißer, benutzt Elanus zunächst wie ein Stalker. Das macht ihn nicht gerade sympathisch. Und sein erster Auftritt in der neuen Uni, wo er so ziemlich der jüngste Student ist, geht auch katastrophal daneben. Dass Jona sich in der Gastfamilie, in der er während des Studiums leben soll, nicht wohlfühlt, kann man sich unter den Umständen gut vorstellen. Nichts passt dem jungen Superhirn, weder das Essen, das die Hausfrau auf den Tisch bringt, noch die Familiengespräche und schon gar nicht die Tochter, die etwas älter ist als er. Da ist man schon leicht genervt mit dem Typen, dem man wohl nichts recht machen kann. Und wer wäre schon gerne in der Situation von Linda, der Jona Elanus hinterherschickt?…

Donna Leon: Wie die Fliege im Bernstein
Rezensionen / 5. August 2016

Es ist der 25. Fall für Commissario Brunetti, jenen „guten Menschen“, den Donna Leon sich ausgedacht hat, und der einfach nicht älter wird. Die Lebenszeit ist einfach stehen geblieben in den Krimis „wie die Fliege im Bernstein“, weil die Leser es so wollen. So Donna Leon in einem Interview mit der Welt. Da passt dann auch der Titel des neuen Romans „Ewige Jugend“. Auch im Roman steht die Metapher vom Insekt im Bernstein. Doch es geht nicht um von Schönheitsoperateuren verjüngte Frauen, nicht um Anti-Aging, sondern um einen Alptraum. Erwachsen geworden und Kind geblieben Als junges Mädchen war die bildhübsche Manuela in einem der venezianischen Kanäle so lange unter Wasser geraten, dass sie einen Hirnschaden erlitt. Inzwischen ist sie erwachsen, immer noch bildhübsch – aber ein Kind geblieben. Ihre Großmutter kann nicht akzeptieren, dass Manuela das Opfer eines Unfalls wurde. Deshalb ermittelt Brunetti in dem 15 Jahre alten Fall, von dem eigentlich niemand mehr etwas wissen will. Und natürlich kommt er auf seine gelassene Art und Weise einem scheußlichen Komplott auf die Spur. Dazwischen hat der Commissario ausgiebig Gelegenheit, sich über seinen Vorgesetzten Patta zu ärgern, die Hilfe von Signorina Elettra in Anspruch zu nehmen, die Kochkunst seiner Frau Paola…

Ein Mord und viele Schuldige
Rezensionen / 22. Juli 2016

Mark Billingham weiß, wie er seine Leser drankriegt. Am Anfang ein irritierendes Gespräch mit einem Häftling, das mit dem Resümée endet, dass der Gesprächspartner doch nur wissen wollte, wie es ist, jemanden zu töten. Die Aufklärung lässt über 400 Seiten auf sich warten. Und natürlich gibt es einen Mord. Ausgerechnet an einer jungen Frau, die über weite Strecken noch das am wenigsten unsympathische Mitglied des Therapiekreises ist. Der Mörder könnte jeder aus Tony da Silvas Kreis sein – der Therapeut eingeschlossen. Es sind Ex-Süchtige, Vereinsamte, Enttäuschte, die er einmal die Woche in seiner Wohnung versammelt, um ihnen eine Zukunft vorzugaukeln. In Zeitsprüngen zwischen Damals und Jetzt entwickelt Billingham das Psychogramm eines Mordes, der nur einen Täter hat, aber viele Schuldige und an dessen Aufklärung die Ermittlerin scheitern muss. Wechselbad der Gefühle Billingham zieht die Leser buchstäblich in den Therapiekreis hinein, lässt sie Teil haben an der Selbstdemontage des Therapeuten, der als Familienmensch ebenso scheitert wie als neutraler Beobachter. Lässt sie mit ansehen, wie die Gruppenmitglieder untereinander agieren und reagieren, wie sie sich seelisch entblößen und ihre Schwächen zur Diskussion stellen – und wie sie doch immer wieder fast verzweifelt versuchen, den anderen zu gefallen, wenigstens diese Beziehung aufrecht zu erhalten,…