Lebenslang Verdingkind

7. Mai 2024

Es waren andere Zeiten, harte Zeiten, von denen Lukas Hartmann, Jahrgang 1944, in seinem autofiktionalen Roman „Martha und die Ihren“ erzählt. Der Schweizer Autor greift dabei auf die eigene Familiengeschichte zurück. Wie die Martha im Buch war seine Großmutter ein Verdingkind, das sich aus eigener Kraft und mit viel Härte aus der Armut in die Bürgerlichkeit hochgearbeitet hat.

Die Last der Kindheit

Martha wächst zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Geschwistern in einem kleinen Schweizer Dorf auf. In Armut. Denn der Vater kann nach einem Unfall die Familie nicht mehr ernähren. Und als er stirbt, werden die sechs Kinder der Mutter weggenommen und von der Fürsorge auf verschiedene Bauernhöfe verteilt – auch Martha: „Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.“ Eine bittere Erfahrung, denn die Bauernkinder lassen sie spüren, dass sie nicht dazu gehört. Doch Martha beißt sich durch, gönnt sich keine Schwäche.

Pflicht vor Liebe

Die Arbeit in einer Fabrik verschafft ihr Selbstbewusstsein und fast so etwas wie Freiheit. Doch genießen kann sie nicht. Die Angst vor einem erneuten Absturz ins Elend lässt ihr keine Ruhe. Ihr Leben besteht aus Arbeit. Liebe, gar Zärtlichkeit, kennt sie nicht. Das bekommen auch ihre Kinder und Enkel zu spüren, denen sie Pflichterfüllung als höchstes Gut vorlebt.

Gefügige Frauen

Reich wird die Familie nicht, auch wenn Martha nach dem Tod ihres ersten Mannes einen Milchhändler heiratet. Überfluss ist dieser Frau ebenso fremd wie Überschwang. Für die Ihren ist sie die unangefochtene Autorität, der sich auch die Schwiegertochter Lena unterordnet. Überhaupt die Frauen dieser Zeit: Gleichberechtigung ist für sie ein Fremdwort. Sie müssen ihre Männer um Erlaubnis fragen, wenn sie etwas unternehmen wollen und später diese Männer pflegen, wenn sie krank sind. Über Lena sagt die 13 Jahre jüngere Schwägerin: „Sie ist eine Frau ihrer Generation, die haben gelernt sich zu fügen.“

Der Makel des Verdingkinds

Lukas Hartmann, der sich im Roman Bastian nennt und schon früh künstlerische Ambitionen hat, leidet unter den Verhältnissen und dem Ehrgeiz des Vaters: „Die Söhne, das war sein eiserner Wille, mussten es noch weiter bringen als er, sie sollten den kleinen Wohlstand, den er den Seinen verschafft hatte, wahren und vermehren. Lena sagte er nicht, dass die Söhne aus seiner Sicht zu Höherem bestimmt waren, dazu, Professor zu werden, Direktor oder Generalstabsoffizier. Erst das würde die Familie davon erlösen, dass sie von einem Verdingkind abstammte.“

Erklärungsversuche

Immerhin hat Bastian/Lukas es zu einem der renommiertesten Schweizer Autoren geschafft. Diesem Roman merkt man allerdings deutlich an, dass der Autor persönlich involviert ist.   Die scheinbare Gefühlskälte der Großmutter führt der Enkel auf die Tatsache zurück, dass sie lebenslang gegen den Makel des Verdingkinds gekämpft hat.

Info Lukas Hartmann. Martha und die Ihren, Diogenes, 298 S., 25 Euro

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