Zeit und Schicksal
Rezensionen , Romane / 28. März 2024

Das andere Tal, so auch der Titel dieses erstaunlichen Debüt-Romans von Scott Alexander Howard, liegt hinter den Bergen egal ob im Osten oder im Westen. Und es ist identisch mit dem Tal, in dem die Ich-Erzählerin Odile aufwächst. Alles gleich, die Häuser, die Schule, der See, die Hügel. Und doch ist etwas anders: Die Zeit. Im Westen ist alles 20 Jahre früher, im Osten 20 Jahre später. Ein unüberwindbarer Zaun trennt die Täler von einander. Regulierte Zeitreisen Aber es ist möglich, in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu reisen – mit behördlicher Genehmigung und aus einem triftigen Grund.  Wegen übergroßer Trauer etwa, wenn ein geliebter Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Wer würde nicht alles dafür geben, ihn oder sie noch einmal zu sehen? Oder wer würde nicht gern wissen, wie die Enkel leben? Berührungsängste Die Zeitreisenden dürfen allerdings nicht mit den von ihnen Ersehnten sprechen, sie müssen Masken tragen, um nicht erkannt zu werden. Denn um jeden Preis muss verhindert werden,  dass Menschen in das Schicksal eingreifen. Deshalb sind auch die Gendarmen so wichtig, die an der Grenze patrouillieren. Fast so wichtig wie der conseil, der über die Anträge auf Zeitreisen entscheidet. Zerstörerisches Wissen Die schüchtern Odile…

Gut abgeschmeckt
Rezensionen , Romane / 26. Februar 2024

Auch mit knapp 90 Jahren beweist die Altmeisterin des deutschen Krimis Scharfsinn und Biss. „Gruß aus der Küche“ heißt ihr neuer, gut abgeschmeckter Roman, in dem sie wieder Abgründe ans Tageslicht befördert, die auch in ganz normalen Menschen schlummern. Übersichtliches Personal Das Personal ist übersichtlich: Die etwas klein geratene und rundliche Irma hat das Traditionsgasthaus „Zum Hirschen“ in das hippe Veggie-Restaurant Aubergine verwandelt. Unterstützt wird sie von dem gut aussehenden und ein paar Jahre jüngeren Josh, der allerdings ein Faible für weibliche Reize hat. Auch Irmas geistig eher minder bemittelte Freundin Nicole verfügt über solche und weiß sie entsprechend einzusetzen. Doch sie bekommt Konkurrenz von der selbstsicheren 16-jährigen Praktikantin Lucy. Und dann ist da noch der schwerhörige „Gemüsemann“. Der alte, geistig durchaus fitte Vinzent schnippelt in der Küche Gemüse und wird vom Küchenpersonal als alter Trottel abqualifiziert. Das Geheimnis des Gemüsemanns Nicht so von Irma, die den Alten wegen seiner Klugheit bewundert. Was die anderen nicht ahnen, Vinzent hört dank seines Mini-Hörgeräts alles, was sie sagen. Er zieht daraus nicht nur seine Schlüssel, sondern schreitet auch zur Tat und sorgt damit nicht nur für einige Verwirrung, sondern für eine ganze Serie von Ereignissen, die Irmas Leben von Grund auf erschüttern….

Das Leben ist kein Film
Rezensionen , Romane / 19. Februar 2024

„Ohne meine beruflichen Erfahrungen hätte ich das nicht schreiben können“, sagt Emanuel Bergmann über seinen neuen Roman Tahara. Bergmann war viele Jahre selbst Filmjournalist wie sein Protagonist Marcel Klein. Und die Einblicke in die Welt der Filme und die der Filmkritiker sind mit das Beste an diesem Buch, das von der Sehnsucht erzählt geliebt zu werden. Das Ferkel am Trog Dabei wirkt dieser Marcel Klein, der für ein Filmjournal schreibt, ziemlich abgebrüht. Er liebt zwar das Kino und den Film, aber er verachtet den Star-Rummel ebenso wie seine vorwiegend männlichen Kritikerkollegen, die sich bei den Filmfestspielen in Cannes so wichtig nehmen: „Man war dort nur das Ferkel am Trog, umringt von Kollegen, die alle um dieselben Bröckchen wetteiferten. Aber wenigstens gab‘s da was zu essen. Es konnte nicht schaden, sich gelegentlich auf Kosten anderer durchzufuttern.“ Liebe und Lügen Und das tut Marcel auch ausgiebig, nicht ohne ebenso ausgiebig dem reichlich fließenden Alkohol zuzusprechen. Alles wie immer, bis ihm im Hotel die geheimnisvolle Héloise über den Weg läuft, eine melancholische Schönheit. Marcel ist schockverliebt. So sehr, dass er, der Profi, das Interview mit dem Star der Festspiele vermasselt. Das kostet ihn den Job, weil auch all seine Lügen nichts mehr retten…

Am Ende war’s ein Leben
Rezensionen , Romane / 21. Dezember 2023

Das späte Leben heißt der neue Roman von Bernhard Schlink, eine Auseinandersetzung mit dem Tod. Martin ist 76 Jahre alt, aber seine Familie ist jung. Denn er hat vor wenigen Jahren mit der 30 Jahre jüngeren Ulla nochmal eine Familie gegründet. Sohn David ist sechs. Nun hat der Familienvater die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen. Martin muss mit einem baldigen Tod rechnen. Was bleibt? Was bleibt von ihm? Wie wird sich David an ihn erinnern? Was kann er dem Jungen noch geben? Bilanz ziehen will er nicht: „Für das Leben lässt sich keine Bilanz ziehen. Man macht dies und macht das, und am Ende war‘s ein Leben. Mehr ist nicht.“ Also schreibt Martin einen Brief für David, den er erst erhalten soll, wenn er älter ist. Dieses Schreiben zieht sich durch den ganzen Roman. Martin will David etwas mitgeben für sein Erwachsensein, will ihn auf das Leben vorbereiten. Aber er will auch in Erinnerung bleiben. Kein leichtes Unterfangen, manchmal auch eine Gratwanderung. Das Leben nach ihm Er hat noch viel vor in der kurzen Zeit, die ihm noch bleibt. Umso seltsamer findet er es, dass Ulla sich ihm immer mehr entzieht. Betrügt sie ihn? Wie soll er damit umgehen? Martin weiß ja,…

Zerbrochene Träume
Rezensionen , Romane / 16. August 2023

Paradise Garden heißt der Eisbecher, den Billie und ihre Mutter sich am Monatsanfang gönnen, und so heißt auch der Roman von Elena Fischer über eine Mutter-Tochter-Beziehung, die zu einer Tochter-Vater-Suche wird. Die 36-jährige Autorin hat für ihr Debüt den Literaturförderpreis ihrer Heimatstadt Mainz erhalten. Zu Recht, denn dieser Coming-out-of-age-Roman ist gleichzeitig zauberhaft und komplex, sanft und knallhart. Aus der Sicht einer 14-Jährigen Erzählt wird er aus der Sicht der 14-jährigen Billie, die gleich zu Anfang feststellt „Vierzehn ist ein beschissenes Alter, um seine Mutter zu verlieren.“ Und für Billie ist alles noch viel schlimmer, weil sie praktisch in einer Art Symbiose mit ihrer Mutter gelebt hat – in einem heruntergekommenen Haus, mit abgehängten aber liebenswerten Nachbarn, mit wenig Geld aber viel Fantasie. Vor allem die Mutter ist groß darin, den Alltag zu verzaubern. Mit ihren zwei Jobs verdient sie zwar gerade mal soviel Geld, um mit Billie über die Runden zu kommen. Dafür ist sie eine Meisterin im Träumen oder sollte man besser sagen, im Vertuschen der Wirklichkeit? Bedrohte Zweier-Idylle Für Billie jedenfalls ist die Mutter  über jede Kritik erhaben, auch wenn sie ihrer Tochter nie verraten will, wer ihr Vater ist. Als dann eines Tages die ungarische Großmutter unangemeldet…

Brunetti und die Roten Brigaden
Rezensionen , Romane / 1. August 2023

„Wie die Saat, so die Ernte“ heißt Donna Leons neuester Brunetti-Roman, der sich schon seinen Platz auf der Spiegel-Bestsellerliste gesichert hat. Dabei hat es Donna Leon schon längst aufgegeben, ihren Commissario Brunetti auf die übliche Art ermitteln zu lassen. Sind ihre Krimis schon lange viel mehr als Kriminalromane, sie sind Gesellschaftskritik, Zeitbild und Familienroman. Denn die Lesenden begleiten den Commissario auch beim Älterwerden. Und je älter er wird, umso mehr erinnert er sich an seine Jugend. Blick zurück So erfährt man von Buch zu Buch mehr über den Commissario, der sich mit Paolo in die höheren Kreise Venedigs eingeheiratet hat. Dass Brunetti aus kleinen Verhältnissen stammt, weiß man inzwischen. Dass er seine Mutter sehr geliebt hat, auch. Doch wie verlief seine Jugend in den revolutionären Zeiten der Roten Brigaden? Die Zeit der Roten Brigaden Antwort darauf gibt der  Donna Leon in diesem Roman. Am Anfang steht ein toter Mann aus Sri Lanka, den Brunetti anlässlich einer Immobilien-Recherche kennengelernt hat. Er wurde erstochen. Auf der Suche nach dem Täter – die Schwere der Verletzungen deutet auf einen Mann hin – stößt Brunetti in der Wohnung des Toten auf ein Konvolut von Zeitungen aus der Zeit der Roten Brigaden. Erinnerungen kommen auf…

Das verfluchte Schloss
Allgemein / 28. Juli 2023

Auf Blackbird Castle geht Seltsames vor sich. Das wissen die Dorfbewohner, auch wenn sie nicht ahnen, was wirklich dahinter steckt. Kann es die zwölfjährige Zita mit dem Bösen aufnehmen, das von dem Schloss Besitz ergriffen hat? Sie ist die Ich-Erzählerin in Stefan Bachmanns spannendem Jugendroman „Die letzten Hexen von Blackbird Castle“. Seltsame Menschen Zita, die in einem Kinderheim aufwuchs, soll die Erbin des Schlosses und eine Hexe sein. Soviel weiß das Mädchen. Auf dem verrufenen Schloss findet die Zwölfjährige in den Kindern Bram und Minnifer Verbündete, auch wenn die beiden sich manchmal seltsam benehmen. Noch seltsamer ist die Hausdame Mrs. Cantaker, die vorgibt Zita in der Hexerei unterrichten zu wollen und auftritt wie die Schlossherrin persönlich. Und welche Rolle spielt der servile aber undurchschaubare Mr. Grenouille? Bösartige Verschwörung Ganz allmählich kommt das Mädchen einer bösartigen Verschwörung auf die Spur, die darauf hinausläuft, die niederträchtige Hexe Magdeboor wieder zum Leben zu erwecken und die Macht des Bösen auf Blackbird Castle zu zementieren. Nur mit vereinten Kräften und der Hilfe von Zitas Raben Vikka schaffen die Kinder es, das Schloss von dem Fluch zu befreien. Harry Potter lässt grüßen Kommt einem irgendwie bekannt vor? Zita könnte die weibliche Ausgabe von Harry Potter…

In der Internet-Falle
Rezensionen , Romane / 25. Juli 2023

Cy Baxter, der Social-Media-Mogul im neuen Roman „Going Zero“ von Anthony McCarten könnte Elon Musk nachempfunden sein oder auch Mark Zuckerberg. Auf jeden Fall ist er ein Technologie-Freak, der von den Überwachungsmöglichkeiten seiner Firma Fusion nicht nur überzeugt, sondern geradezu begeistert ist. Um seine 360-Grad-Datenbank zu propagieren, bietet er der CIA eine Wette an: Zehn Menschen – fünf Internet Profis und fünf Laien – sollen versuchen, sich 30 Tage lang dem Netz zu entziehen. Wer nicht gefunden wird, kassiert drei Millionen Dollar. Sollte es aber keinem der Probanden gelingen, unentdeckt zu bleiben, will Baxter einen Milliarden-Auftrag der Regierung für das Aufspüren von Tätern, die Gewaltakte planen. Unter dem Radar „Go Zero“ heißt das Projekt, „Going Zero“ der Roman. Denn für die Überwachenden sollen die zehn Auserwählten unauffindbar sein, eine Nullnummer. Doch  unter dem Radar zu bleiben wird schwierig. Baxter setzt ein ganzes Heer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern darauf an, die Lebensumstände der Beteiligten zu erforschen, ihre Bewegungsprofile zu scannen, ihre Vorlieben zu durchleuchten, ihre Freunde aufzuspüren. Das Internet als Waffe Natürlich haben sich auch die zehn Probanden einiges überlegt, um unentdeckt zu bleiben. Der eine taucht in die Obdachlosenszene ab, die andere will auf einer Segelyacht der Überwachung entgehen. Dem…

Lebenslügen
Rezensionen , Romane / 15. April 2023

Martin Suter mag es edel.  Auch in seinem neuen Roman  Melody  öffnet er die Tür zu einem stilvollen Haus, in dem der Eigentümer, einst hohes Tier in Politik und Wirtschaft, als gebrechlicher alter Mann residiert. Umhegt von Butler und Köchin. Doch Dr. Peter Stotz reicht es nicht, dass er sich alles leisten kann; er braucht jemanden, dem er imponieren, mit dem er reden kann. Deshalb engagiert er den angehenden Juristen Tom als eine Art Privatsekretär. Verführerischer Luxus Für Tom, der aus kleinen Verhältnissen stammt, ist es der Eintritt in eine neue Welt, in der Geld keine Rolle spielt und  in der alles käuflich scheint – auch Zuwendung. Verwöhnt mit besten Weinen und feinsten Speisen, gewöhnt sich Tom an das Leben im Luxus. Und zunehmend hegt er auch Sympathie für den einsamen Alten, der ihm von seiner großen Liebe erzählt: Melody. Die verschwundene Liebe Ihr Bild findet sich überall in der Villa, oft mit Blumen geschmückt wie ein Schrein. Dabei ist es Jahrzehnte her, dass sie verschwunden ist, kurz vor der Hochzeit und unter Zurücklassen des Hochzeitskleides. War Melody vor ihrer muslimischen Familie geflohen, die sie wegen der Verbindung mit einem Nicht-Muslimen bedrohte?  Wurde sie gefangen gehalten?  Stotz sucht seine verschwundene…

Asche der Erinnerung
Rezensionen , Romane / 23. Februar 2023

„Meine Funktion war sehr einfach: Leiche rein, Asche raus, Knochenreste im Kremulator zermahlen.“ Der da spricht ist Pjotr Nesterenko, Gründer und Leiter des Moskauer Krematoriums, und als Ich-Erzähler in Sasha Filipenkos Roman Kremulator  genannt. Der belarussische Autor siedelt seinen gleichnamigen Roman in der Zeit der stalinistischen Säuberungen an. Nesterenko wird der Spionage für eine feindliche Macht beschuldigt und ausführlichen Verhören unterzogen. Er muss wohl mit der Todesstrafe rechnen. Trotzdem verlaufen die Verhöre „nicht frei von Komik“, wie der Angeklagte notiert. Bühne für persönliche Rückschau Ganz unschuldig daran ist Nesterenko daran nicht. Er nutzt die Verhöre auch als Bühne für seine ganz  persönliche Rückschau. Denn der Mann war nicht nur der Gründer des Moskauer Krematoriums, er stammt aus altem Adel, hat für die Weißrussen gekämpft,  war in Kiew,  ist in Paris Taxi gefahren, arbeitete  in Istanbul und in Serbien. Kurz, er hat so einiges aus der Welt außerhalb der großen Sowejetunion mitgekriegt. Geschichte einer großen Liebe Diese Weltläufigkeit imponiert dem jungen Ermittler Perepeliza und macht ihn doppelt misstrauisch. Was zum Teufel hat diesen Nesterenko dazu getrieben, von einem Ort zum anderen zu reisen, von einem Job zum anderen zu wechseln? Perepeliza ahnt nichts von der großen Liebe, die den Angeklagten seit…