Zeit und Schicksal

28. März 2024

Das andere Tal, so auch der Titel dieses erstaunlichen Debüt-Romans von Scott Alexander Howard, liegt hinter den Bergen egal ob im Osten oder im Westen. Und es ist identisch mit dem Tal, in dem die Ich-Erzählerin Odile aufwächst. Alles gleich, die Häuser, die Schule, der See, die Hügel. Und doch ist etwas anders: Die Zeit. Im Westen ist alles 20 Jahre früher, im Osten 20 Jahre später. Ein unüberwindbarer Zaun trennt die Täler von einander.

Regulierte Zeitreisen

Aber es ist möglich, in die Zukunft oder in die Vergangenheit zu reisen – mit behördlicher Genehmigung und aus einem triftigen Grund.  Wegen übergroßer Trauer etwa, wenn ein geliebter Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Wer würde nicht alles dafür geben, ihn oder sie noch einmal zu sehen? Oder wer würde nicht gern wissen, wie die Enkel leben?

Berührungsängste

Die Zeitreisenden dürfen allerdings nicht mit den von ihnen Ersehnten sprechen, sie müssen Masken tragen, um nicht erkannt zu werden. Denn um jeden Preis muss verhindert werden,  dass Menschen in das Schicksal eingreifen. Deshalb sind auch die Gendarmen so wichtig, die an der Grenze patrouillieren. Fast so wichtig wie der conseil, der über die Anträge auf Zeitreisen entscheidet.

Zerstörerisches Wissen

Die schüchtern Odile hätte die Chance gehabt, in den conseil aufgenommen zu werden. Doch sie hat in Besuchern aus der Zukunft die Eltern ihres Freundes Edme erkannt. Das Wissen darum, dass er sterben wird, belastet das junge Mädchen. Und als Edme dann wirklich ums Leben kommt, bricht ihr Leben auseinander.

Die Versuchung

Statt im conseil landet Odile in der Gendarmerie. Da, wo die hoffnungslosen Fälle landen, die nirgendwo anders eine Chance haben. Odile empfindet den Job als gerechte Strafe dafür, dass sie Edme nicht helfen konnte. Auch wenn sie im Offizier Raimond einen Förderer hat, kann sie den Schulfreund nicht ganz vergessen.  Die Vergangenheit scheint auch ihre Zukunft zu bestimmen. Ein zufälliges Treffen mit Edmes bestem Freund ändert dann alles. Kann Odile ihren damaligen Fehler wieder gut machen? Und was passiert, wenn sie scheitert?

Zwei Romane in einem

Scott Alexander Howard hat eigentlich zwei Romane in einem geschrieben. Der erste Teil erzählt von einer Einzelgängerin, die gemobbt wird und erst durch Edme Freundschaft und Liebe kennenlernt. Im zweiten Teil,  nach einem Zeitsprung von  20 Jahren,  ist Odile eine scheinbar eiskalte Gendarmin, die sich gegen die übergriffigen Männer zu wehren weiß. Die Gesetze des conseil hinterfragt sie nicht, ihr Leben ist in Routine erstarrt. Doch tief in ihrem Herzen brennt noch ein Fünkchen Hoffnung.

Was wäre wenn?

Das andere Tal erzählt von Liebe und Sehnsucht und von der Macht des Schicksals. Was wäre wenn, denken auch die Lesenden. Wie würde sich das Leben im Tal durch eine Korrektur verändern? Und was wäre dann mit der Zukunft? Diese Fragen bleiben im Roman unbeantwortet, was so manchen ins Grübeln bringen könnte. Und das ist sicher nicht das Schlechteste.

Info Scott Alexander Howard. Das andere Tal, aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger, Diogenes, 457 S., 25 Euro

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