Ist das Glück?
Rezensionen , Romane / 24. April 2025

Ein Dorf in Irland, in dem die Zeit stehen zu bleiben scheint: Niall Williams hat das fiktive Faha in mehreren seiner Romane zum Leben erweckt – auch in seinem neuen Buch „Das ist Glück“. Es ist das Jahr 1958, in Faha brennt noch das Torffeuer im Kamin, das Wasser kommt aus dem Brunnen, das Licht lässt sich noch nicht an- und ausschalten. Die Menschen hier leben wie im 19. Jahrhundert – und sie scheinen zufrieden. Trotz des Regens, der „von hinten und von vorn und aus allen anderen Richtungen kam“. Sonne und Strom Und dann, mitten in der Karwoche, hört es plötzlich auf zu regnen. Faha erlebt Tage voller Sonnenschein und fast spanischer Hitze, während die Vorbereitungen zur Elektrifizierung beginnen. Und das Dorf wird Zeuge einer Liebesgeschichte, die das Zeug zur Legende hat. Denn mit der Sonne kommt Christy ins Dorf, der für die Elektrifizierung werben soll. Für den Ich-Erzähler Noel, genannt Noe, wird der welterfahrene Mann schnell zum Freund und Wegweiser. Große Gefühle Nicht alle im Dorf heißen die kommenden Errungenschaften für das Dorf gut. Auch Noels schrullige Großeltern Ganga und Doady, bei denen Christy sich einquartiert hat, wehren sich dagegen. Der Untermieter bringt einiges durcheinander in dem Dorf,…

Die Schweiz am Pranger
Rezensionen , Romane / 9. April 2025

Ihr Roman Daily Soap  sei eine „Frustrationsverdauung“ sagte Nora Osagiobare im Interview mit dem Schweizer Rundfunk. Man kann es der Autorin nicht verdenken. Als Tochter eines nigerianischen Vaters ist sie mit dem Gefühl aufgewachsen, „dass etwas mit mir nicht stimmt“. Das prägt ihren distanzierten Blick auf die Schweizer Heimat. Lust an der Überzeichnung Mit ihrem Debüt  Daily Soap erregt Nora Osagiobare nicht nur international Aufsehen, sondern mit Sicherheit auch Anstoß bei Schweizer Biedermännern. Denn ihre Ich-Erzählerin Toni nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um Rassismus-Erfahrungen geht. Dabei kommt der Roman dank Osagiobares Lust an der Überzeichnung so gar nicht jammernd anklagend rüber.  Eher schon lustig, wobei einem das Lachen manchmal im Hals stecken bleibt. Verwirrende Familienverhältnisse Ich-Erzählerin Toni schlägt sich mit ungeklärten Familienverhältnissen rum, die auch die Lesenden verwirren. Erst allmählich lernen sie zu verstehen, dass hier alle irgendwie mit allen zu tun haben. Während Toni sich in ihre Lieblings-Soap flüchtet, staunen die Lesenden über den Geschäftssinn der Unternehmerin Zita Bodeca, die nur allzu bereit ist, ihre Überzeugung dem Profit zu opfern. Die Sache mit den Werbespots Um sich im gesellschaftlichen Chaos zurechtzufinden, können sie immerhin auf die Auflistung der Hauptfiguren am Anfang des Romans zurückgreifen. Natürlich geht…

Verkauftes Paradies
Rezensionen , Romane / 4. April 2025

Nord Sentinelle wo ist das? Die westlichste der Andanamen-Inseln im Indischen Ozean ist bis heute – fast – unerforscht. Die Bewohner haben sich bisher erfolgreich gegen Eindringlinge zur Wehr gesetzt. Anders als Sultan Ahmad ibn Abu Bakr, der seine Stadt Harar einem Ungläubigen öffnete. Ein fataler Fehler, wie der französische Autor und Prix Goncourt-Preisträger Jérôme Ferrari meint. „Es ist keine Prophezeiung vonnöten, um zu wissen, dass der erste Reisende stets unzählige Katastrophen nach sich zieht.“ Der Ausverkauf der Insel Besser also der Weg von Nord Sentinelle? So jedenfalls hat Ferrari sein neuestes Buch über den katastrophalen Umgang mit einer Insel genannt. Damit hat er den Lesenden die Frage nahe gelegt, wie das Inselleben aussähe, wenn keine Fremden dort angekommen wären. Paradiesisch? Der Autor würde die Frage wohl bejahen. Denn er wütet gegen den Ausverkauf der Insel, den Verlust von Tradition und Identität. Alles kulminiert am Ende im Mord an einem jungen Touristen. Spirale der Gewalt Doch der Philosoph Ferrari erzählt keinen Krimi. Er schreibt über die Hintergründe, die fast zwangsweise zu der Tat führen. Die Spirale der Gewalt innerhalb der Inselbevölkerung, die sogar die Tiere infiziert. Über den Hass auf die Touristen, die sich schamlos der Insel und ihrer Schönheit…

Auf unsicherem Boden
Rezensionen , Romane / 3. April 2025

Clare Leslie Hall traut sich was: Ihr Roman „Wie Risse in der Erde“ ist eine dramatische Dreiecksgeschichte mit Krimi-Elementen. Und dank der meisterhaften Erzählkunst der Autorin ist das Wagnis auch gelungen. Diese Dreiecksgeschichte ist etwas ganz besonderes, spannend, herzzerreißend, sensibel. Es geht um Liebe und Leidenschaft aber auch um Verlust und Hingabe. Das ganze Drama spielt in einem Dorf im englischen Dorset. Da, wo die Häuser Augen und Ohren haben. Wo die Dorfgemeinschaft im Pub ihr Urteil fällt. Sommer der Liebe Als die 17-jährige Beth sich in Gabriel verliebt, den Sohn aus reichem Haus, bleibt auch das nicht verborgen. Doch die beiden sind jung, fühlen sich als Seelenverwandte und erleben einen unbeschwerten Sommer der Leidenschaft. Gabriels Mutter missbilligt die nicht standesgemäße Liaison. Und sie ist nicht ganz unschuldig an dem Missverständnis, das zum Bruch führt. Glück und Unglück 13 Jahre später lebt Beth mit ihrem Mann Frank auf dessen Farm. Es ist das Jahr 1968. Zusammen mit Franks Bruder Jimmy bewirtschaften sie den Hof, fühlen sich einander und den Tieren tief verbunden. Doch Beth leidet auch unter dem Tod des Sohnes Bobby, der bei einem Unfall auf der Farm ums Leben kam. Verhängnisvoller Schuss Und dann kommt Gabriel mit seinem…

Jenseits der Norm
Rezensionen , Romane / 3. April 2025

Alice Renard hat selbst eine ungewöhnliche Lebensgeschichte. Die heute 21-jährige wurde im Alter von sechs Jahren als frühreif eingestuft, und sie beschäftigte sich intensiv mit Neurodiversität und Hyypersensibilität. Diese Kenntnisse flossen wohl in ihren Debütroman ein, der bereits mehrere Preise erhielt. Vater- und Mutterprotokolle „Hunger und Zorn“ ist der deutsche Titel dieses dreiteiligen Romankonstrukts, im Original „La colère et l‘envie“ (Zorn und Verlangen“. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Isor, das seine Eltern zur Verzweiflung bringt. Die Tochter ist nicht nur unangepasst, sie spricht nicht, hat immer wieder Wutanfälle, flüchtet sich in Phantomsprachen und richtet Chaos an. Weil auch Ärzte und Sozialarbeiter vor einem Rätsel stehen, ziehen sich die Eltern ganz auf die Familie und ihre Wohnung zurück. Dieser erste Teil wird protokollartig und abwechselnd von Vater und Mutter erzählt. Der alte Nachbar Im zweiten Teil übernimmt der alte Nachbar Lucien Vincent als Ich-Erzähler. Wegen eines Wasserrohrbruchs in der Wohnung bitten Isors Eltern den 70-Jährigen, einen Nachmittag lang auf ihre Tochter aufzupassen. Daraus entwickelt sich eine tiefe Freundschaft zwischen dem alten Mann und dem jungen Mädchen. Sie spielen Domino, hören Musik, erzählen einander Geschichten. Beide blühen in der Gegenwart des jeweils anderen auf, empfinden eine ungewöhnliche Verbundenheit. „Ich liebe deine fast…

Alles für die Rache
Rezensionen , Romane / 20. März 2025

Ursula Poznanski ist eine Meisterin der Spannung. Da lag es nahe, dass sie sich auch im Krimi-Genre einen Namen macht. Nach „Stille blutet“ nun also der zweite Krimi rund um die Ermittlerin Sina Plank: Teufelstanz. Und natürlich ist auch dieser Fall spannend bis zum bitteren Ende. Versierte Krimileser könnten allerdings schon relativ früh ahnen, hinter welcher Identität sich der gesuchte Mehrfachmörder versteckt. Im Kopf des Mörders Zwar legt  Ursula Poznanski auch hier geschickt falsche Fährten, aber sie ermöglicht es den Lesenden auch, in den Kopf des Mörders zu schauen. Der plant seine Morde an alten Menschen akribisch und spricht dabei die Lesenden direkt an. Sie sollen verstehen, dass er nicht aus Mordlust handelt, sondern eine alte Rechnung begleichen will. Und dass er sich daran von niemandem hindern lassen wird, auch nicht von möglichen Emotionen. Der Weg zur Rache Und während Fina mit Unkollegialität im Revier und dem schwesterlichen Chaos zu Hause zu kämpfen hat, scheint für den Mörder der Weg zur Rache frei. Die Ermittler bleiben lange im Ungewissen, folgen falschen Spuren, bis Sina der Wahrheit nahe kommt. Was sie dann über das Motiv des Täters erfährt, erschüttert ihren Glauben an die Gerechtigkeit und an die eigene Unabhängigkeit. Schwesterliches Chaos…

Das geheime Leben der Pilze
Rezensionen , Romane / 14. März 2025

Kleine Dinge können Großes schaffen. Das gilt auch für die kleinen Dinge, die Benoît Coquil in den Mittelpunkt seines gleichnamigen Debüts stellt: Magic Mushrooms, Psilocybe, „schön aufrecht auf der Erde, kaum größer als ein Däumling“. Auf höchst unterhaltsame Art und mit wechselnden Perspektiven erzählt der französische Autor davon, wie die magischen Pilze aus der mexikanischen Hochebene zu den amerikanischen Hippies und in die Labore der Wissenschaft gelangt sind. Die Etholmykologen Einen großen Anteil daran haben der Bankier Gordon Wasson und seine aus Russland stammende Frau Valentina, die ihren Mann mit ihrer Leidenschaft für Pilze ansteckt. Gemeinsam durchstöbern sie Bibliotheken nach der Geschichte der Pilze und werden“Ethomykologen“, Pilzforscher. Und auf der Suche nach immer mehr Wissen über die geheimen Kräfte der Pilze reisen die Wassons in die mexikanische Hochebene zu Maria Sabina, der Hohepriesterin der Magic Mushrooms: Die Schamanin „Es heißt, sie habe sie, schon bevor sie zehn gewesen sei, zum ersten Mal probiert. Es heißt, sie könne zu ihm sprechen, zu Gott, und auch zu den Heiligen, zu Maria und selbst zum verstorbenen Präsidenten der Republik, Benito Juárez. Es heißt, sie heile durch die Sprache, durch die Hohe Sprache der Pilze. Sie nenne sie im Übrigen niemals so, Pilze. Weil…

Jenseits der Idylle
Rezensionen , Romane / 12. März 2025

Hier Draussen, das klingt nach Freiheit, frischer Luft. Wer in einer hektischen Großstadt lebt und noch dazu möglicherweise in beengten Verhältnissen, träumt gern vom Leben auf dem Land. Von viel Platz und viel Natur, von Kühen auf der Weide, frei laufenden Hühnern, kurz von einer Idylle. Doch was ist dran an solchen Träumen? Martina Behm, Journalistin und Strickdesignerin, kennt wohl beide Seiten, die städtische und die ländliche. In ihrem Debüt „Hier Draussen“ erzählt sie mit warmherzigem Verständnis vom dörflichen Leben jenseits der Idylle. Schattenseiten Lara und Ingo sind mit ihren Kindern raus aufs Land gezogen – auf den Reuserhof, einen „Resthof“ im fiktiven Dorf Fehrdorf. Doch die scheinbare Idylle zeigt schnell ihre Schattenseiten. Nichts da von den erträumten Selbstversorgerhöfen mit ein paar Schweinen, Kühen und Hühnern. Statt dessen industrielle Schweinemast und „Bodenhaltung“ von Hühnerhunderten. Und Ingo muss auch noch täglich zu seinem hippen Start-Up nach Hamburg pendeln. Die Sage Als er dann auf dem abendlichen Heimweg eine weiße Hirschkuh anfährt, erschüttert das die ganze Dorfgemeinschaft. Wenn so ein Tier getötet wird, geht die Sage, stirbt ein Mensch im Dorf binnen eines Jahres. Auch deshalb hat der jagende Nachbar die Hirschkuh zusammen mit Ingo getötet. Er wollte nicht allein verantwortlich sein….

Der Sommer der Extreme
Rezensionen , Romane / 12. März 2025

Auch wenn die Temperaturen so waren wie in anderen Sommern auch war dieser Sommer doch nicht wie andere. Denn Oliver Hilmes erzählt in dem Buch „Ein Ende und ein Anfang“ davon, „wie der Sommer 45 die Welt veränderte“. Und er tut das, indem er den Alltag der Menschen neben die politischen Entscheidungen stellt, die unsere Welt veränderten. Indem er Politiker, Prominente und ganz normale Personen nebeneinander stellt. Da wird nichts gewichtet. Schließlich passieren die Dinge ja auch gleichzeitig. Es wird viel zitiert in diesem so spannenden wie vielstimmigen Zeit-Porträt. Dafür hat der Autor viel gelesen, wie die Anmerkungen im Anhang und die vielseitige Bibliographie beweisen. Der reizende Herr Hitler Er war ja nicht dabei, als Swetlana und Josef Stalin nach dem Sieg über Hitler-Deutschland telefonierten. Auch nicht, als Hermann Göring, „der letzte Renaissance-Mensch“, in Augsburg vernommen wurde und der US-Soldat Klaus Mann ihn fragte, ob Hitler tot sei. Er hat nicht gehört, wie Winifred Wagner über ihren Freund Hitler sagte „Er war reizend.“ Oder wie Heinrich Himmler sich in Lüneburg stellte. Und doch liest sich das alles wie ein Augen- und Ohrenzeugenbericht. Das ist Oliver Hilmes‘ große Kunst. Die Zeitenwende Er hetzt die Lesenden von Berlin nach Tokio, von München…

Charaktere ohne Konturen
Rezensionen , Romane / 3. März 2025

„Als Wolfgang Mühlberger am Telefon vom Tod seiner einzigen Tochter Nathalie hört, bricht er zusammen. Nachdem seine Frau an Krebs gestorben ist, hatte Mühlberger den Kontakt zu seinem Kind verloren. Sie war dem ängstlichen und trauernden Vater zu viel geworden, mit ihrem Leid, den Schmerzen des Erwachsenwerdens. Nathalies Tod in der Psychiatrie ist rätselhaft. Ist sie an gebrochenem Herzen gestorben? Wer ist Schuld an Nathalies Tod? Im Laufe seiner Recherche trifft Mühlberger auf einen alten Bekannten, mit dem er einen schicksalhaften Streit hatte, in den achtziger Jahren, an der Humboldt-Universität, den damaligen Fachbereichsbeau Zorniger…“ Die Inhaltsangabe klingt so, als könnte Eva Förster mit der Erzählung „Zorniger“ die literarische Aufarbeitung komplizierter Gefühlswelten gelungen sein. Überzogene Vergleiche Das Erzählgerüst stimmt ja auch und könnte Grundlage für einen interessanten Film sein. Selbst das absurde Ende würde passen.  Auch der Rückblick auf die schicksalhaften Entscheidungen in der DDR. Aber leider mangelt es der Theaterwissenschaftlerin Eva Förster am stilistischen Handwerk – und dem Verlag an einem guten Lektorat. Die Dialoge sind simpel, hin und wieder auch verquast. Die Vergleiche wirken oft überzogen: „Sein Gehirn war wie diese Maschine vom Tele-Lotto in der DDR, wenn die Kugel, die später Zahlenscheiben umlegte, aus dem vulkanförmigen Kegel stieg…