Faschistischer Alptraum

24. Oktober 2022

Celeste Ng spielt gern mit dem Feuer – buchstäblich und symbolisch. Das gilt auch für ihren neuen Roman „Unsere verschwundenen Herzen“, in dem sie die USA in eine faschistische Diktatur verwandelt. Die allerdings ist nicht gar zu weit entfernt vom aktuellen amerikanischen Alltag. Und PACT, das Gesetz zur Erhaltung amerikanischer Kultur und Traditionen, das im Roman eine Periode des Aufruhrs und des Niedergangs beendete, erinnert fatal an Trumps „Make America great again“.

Familienschicksale

Die Folgen müssen im Roman vor allem chinesisch-stämmige Amerikaner ausbaden. Und dabei gehen die Behörden rabiat vor. Beim leisesten Verdacht subversiver Beeinflussung werden Kinder aus ihren Familien gerissen. Kritische Journalisten werden mundtot gemacht. In den Bibliotheken verschwinden Bücher mit „gefährlichen Inhalten“. Verbrannt wie in Hitler-Deutschland werden sie nicht: „Wir verbrennen unser Bücher nicht,“ erklärt eine Bibliothekarin, „Wir stampfen sie ein. Ist viel zivilisierter, oder? Wir zerdrücken sie, recyclen sie zu Toilettenpapier.“

Die Tyrannei von PACT

Der zwölfjährige Junge, der sich das anhört, ist Bird oder Noah, wie sein Vater ihn seit dem Verschwinden der chinesischen Mutter Margaret Miu nennt. Die beiden leben zurückgezogen in einem Studentenwohnheim. Der Vater, im früheren Leben Linguistik-Professor, verdient einen kargen Lohn mit dem Einordnen von Büchern. PACT bestimmt ihr Leben, sorgt dafür, dass Bird sich so unauffällig verhält wie möglich. Dass beide die verschwundene Mutter und ihre Gedichte totschweigen.

Heldenreise ohne Happy End

Doch drei Jahre nach ihrem Verschwinden erhält Bird eine rätselhafte Nachricht von Margaret. Der Junge macht sich auf die Suche nach seiner Mutter – eine klassische Heldenreise, die allerdings nicht wie im Märchen zu einem Happy End führt. Oder vielleicht doch. Der Schluss, der die Macht der Worte und der Erinnerung hoch hält, lässt vieles offen.

Am Puls der Zeit

Celeste Ng feiert in diesem beunruhigend aktuellen Buch die Literatur, für deren Überleben ein Netzwerk von Bibliothekaren und Bibliothekarinnen sorgt. Sie tut das auf ihre ganz eigene Weise mit vielen Referenzen zu Märchen, Fabeln und mutigen Autorinnen. Der dystopische Ansatz mag nicht ganz neu sein, die Erzählung manchmal etwas sehr didaktisch und das Motto der „verschwundenen Herzen“ zu gefühlig. Aber das ändert nichts daran, dass Ngs Roman den Nerv der Zeit trifft.

Hineingelesen…

… in die Folgen von PACT

Und weil dies ein magisches Märchenland ist, in dem alles geschehen kann, weil ihm das Gesehene neue Energie verleiht und er noch immer von der wunderbaren Luft des Möglichen in seiner Lunge zehrt,überrascht es ihn nicht, als sie plötzlich da ist: seine Mutter, gleich auf der anderen Straßenseite. Ein kleiner brauner Hund neben ihr. Etwas in Bird springt in einem Funkenregen himmelwärts, und er stößt fast einen Freudenschrei aus.
Dann schaut seine Mutter auf den Hund hinunter, der ihr nur bis zum Knöchel reicht und in einem gepflegten Blumenbeet schnuppert, und es ist gar nicht seine Mutter. Nur eine Frau. Die ihr eigentlich überhaupt nicht ähnlich sieht, nur ganz oberflächlich – eine Ostasiatin mit langem schwarzen Haar, hinten nachlässig zu einem Knoten gebunden. Jetzt, da er das Gesicht deutlicher sieht, gleicht es dem seiner Mutter nicht im Geringsten. Seine Mutter würde nie einen solchen Hund haben, so eine kleine bernsteinfarbene Puderquaste, die aussieht wie ein Teddybär mit schwarzen Knopfaugen und kecker samtweicher Nase. Natürlich ist sie es nicht, rügt er sich, wie denn auch? Trotzdem ist da etwas an der Art, wie sie sich bewegt – die wachsame Haltung, der unstete Blick -,das ihn an sie erinnert.
Die Frau merkt, wie er sie von der anderen Straßenweite aus beobachtet und lächelt. Vielleicht erinnert auch er sie an jemanden, vielleicht verwechselte sie ihn auf den ersten Blick mit jemandem, den sie liebt, und nun springt diese Liebe auf ihn über wie eine großzügige Gabe. Und weil sie ihn ansieht, weil sie anlächelt und vielleicht zärtliche Gedanken gegenüber diesem kleinen Jungen hegt, der sie an jemanden erinnert, den sie liebt, sieht sie es nicht kommen: eine Faust, die ihr ins Gesicht schlägt.
Es geschieht in Sekundenschnelle, scheint sich aber ewig zu dehnen. Aus heiterem Himmel. Ein großer weißer Mann. Die Frau sackt zusammen, als ginge sie zu Bruch. Bird selbst ist wie versteinert, sein Schrei in der Kehle zementiert. Der Mann ragt über ihr auf, tritt immer wieder zu, leise bösartige Schläge, wie ein Klopfholz auf Fleisch: in den Bauch, die Brust und dann – als sie zusammengerollt daliegt wie eine gepulte Krabbe, die Arme über dem Gesicht, um sich möglichst gut zu schützen, – in den gekrümmten Rücken. Ihre Schreie wortlose Laute, wie Glasscherben, die in der Luft hängen. Der Mann selbst sagt nichts, als erledige er einen Job, etwas Unpersönliches, aber Notwendiges.
Niemand kommt der Frau zu Hilfe. Ein älteres Paar macht kehrt, als wäre ihnen etwas Drängendes eingefallen. Ein Mann eilt über sein Handy gebeugt davon; Autos strömen vorbei, keines hält an. Sie müssen es doch sehen, denkt Bird, wie denn nicht? Der kleine Hund bellt und bellt. Ein Portier erscheint aus dem Gebäude dahinter, und Bird schluchzt fast vor Dankbarkeit. Hilf, denke er. Hilf ihr. Bitte. Dann zieht der Portier die Tür zu. Auf der anderen Seite der dicken Glasscheibe kann Bird ihn schwach ausmachen, verschwommen und geisterhaft sieht er zu, als wäre das Ganze eine Szene auf einem Fernsehbildschirm. Die Wange der Frau liegt jetzt auf dem Gehsteig, ihr Körper zuckt bei jedem Tritt. Er wartet darauf, dass es vorbei ist, damit er die Tür wieder öffnen kann.
Die Frau bewegt sich nicht mehr, und der Mann schaut auf sei hinunter – angewidert? Zufrieden? Bird weiß es nicht. Der Hund knurrt und bellt weiter, wütend und machtlos, seine kleinen Pfoten scharren auf dem Asphalt. Mit einer schnellen Bewegung tritt ihm der Mann mit seinem Stiefel fest in den Rücken. Als wollte er eine Getränkedose oder eine Kakerlake zerquetschen.

Info Celeste Ng. Unsere verschwundenen Herzen, dtv, 403 S., 25 Euro

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