Im Familienlabyrinth

1. November 2019

Der erste Eindruck: geheimnisvoll, schwarzer Einband, goldfarbener Titel  Das Erbe. „Der Autor möchte unerkannt bleiben“, teilt der Verlag mit. „R.R. Sul ist ein Pseudonym.“ Und geheimnisvoll ist die ganze Geschichte um einen Mann, dem es nur kurz vergönnt ist, ein richtiges Leben im Falschen zu finden, auch wenn er schon früh die Möglichkeit von Macht und Manipulation begriffen hat.

Als Kind ein Außenseiter

Schon als Kind hat seine Mutter Wolf als Außenseiter abgestempelt, als junger Mann spielt er diese Rolle weiter, igelt sich ein in einem Alltag aus Arbeit, Essen, Schlafen. Bis die Jugendliebe die selbst gewählte Isolation durchbricht. Da scheint es, als stünden plötzlich alle Türen offen: „Mit Lina verheiratet zu sein fühlte sich an, wie etwas erreicht zu haben. Etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte, da der Gedanke, etwas zu erreichen, nie eine Bedeutung für mich gehabt hatte. Jetzt war er da… Ich wollte alles richtig machen. Vor allem wegen Lina. Meiner Frau.“

Der Sohn als Hoffnungsträger

Sie will ein Kind, er fügt sich. Und dann kommt Karl auf die Welt, der Junge, der so ganz anders ist als sein Vater: „Karl war jemand, dem alles zuflog… Betrat er einen Raum, sahen ihn die Leute an… Er sendete etwas aus, das magnetisch wirkte auf andere… Karl strahlte in die Welt, und die Welt strahlte zurück.“ Der Zweitgeborene, Augustin, wird vom Charme des Bruders überstrahlt. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, entwickelt er merkwürdige Ticks.

Botschaft aus der Vergangenheit

Und dann meldet sich die Vergangenheit zurück: Der Ex-Mann der Mutter ist gestorben. Die Botschaft stammt von Freddy, dem Sohn des Stiefvaters, den Wolf kaum richtig kennengelernt hat. Jetzt lernt er ihn kennen – auf makabere Art. Karl bringt die eigene Todesanzeige mit nach hause – und lebt ab da in ständiger Todesangst, bis er im Alter von 24 Jahren tödlich verunglückt. Das ist das Ende der scheinbar heilen Familie. Wolf will das Phantom Freddy aus seinem Leben vertreiben, er stellt den Mann – und lässt ihn damit in seinen Alltag.

Das Ende aller Gewissheiten

Lina verlässt ihn, Augustin beginnt ein eigenes Leben. Wolf ist einsam: „Ich dachte an Lina. Wünschte, ich könnte ihr sagen, dass ich nur mit ihr ganz war. Dass ich es verstanden hatte. Dass ich Freddy viel zu lange eingeräumt hatte, Teil von uns zu sein.“ Dann lernt er Paula kennen, Karls Geliebte und beginnt zu ahnen, dass er seinen Sohn kaum kannte, dass er ein Phantom geliebt hat. Für Wolf steht alles in Frage, auch seine eigene Persönlichkeit. Er findet einen Weg zu Augustin, dem anderen Sohn, inzwischen selbst Vater. Noch einmal scheint sich eine Tür zu öffnen. Doch Wolf hat die Rechnung ohne Freddy gemacht…
Der unbekannte Autor hat mit Das Erbe eine dunkle, schillernde Familiengeschichte geschrieben, die tief hinein leuchtet in familiäre Abgründe, ohne sie ganz auszuleuchten. Zusammen mit rätselhaften Songtexten schlägt dieses Familienlabyrinth  die Leser in seinen Bann und lässt sie bis zum Ende nicht mehr los.
Info: R.R. Sul. Das Erbe, dtv, 221 S. 21 Euro

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