Leiden an der Mutter

30. Mai 2025

Alex Schulman arbeitet sich in seinen autofiktionalen Romanen an seiner Familie ab, auch in seinem neuen Buch „Vergiss mich“, in dem er über das ambivalente Verhältnis zu seiner alkoholkranken Mutter schreibt. Er tut das mit gewohnter Sensibilität, aber auch mit harscher Kritik:

Mutter und Sohn

„Wie soll ich ihr jemals verzeihen können, was in dieen Nächten geschieht? Diese Nachrichten auf meinem Handy, mit denen ich jeden Morgen erwache? Selbst wenn sie eines Tages trocken ist, wie soll ich ihr in die Augen schauen, nachdem sie mir solche Dinge geschrieben hat? Ich weiß einfach nicht, wie das gehen soll! Wie kann ich nach alldem noch ihr Sohn sein und sie meine Mutter?“

Wehmütige Erinnerungen

Und doch will dieser Sohn, den die Mutter von sich gestoßen hat, nachdem er ihren Alkoholmissbrauch angesprochen hat, den Kontakt nicht ganz abbrechen. Mit Wehmut erinnert er sich an sorglose Zeiten mit der Familie im Ferienhaus, an die Nähe zur liebevollen Mutter, an ihre zeitweilige Komplizenschaft. Aber das alles ist lang vorbei.

Das Schweigen der Eltern

Allerdings erinnert sich der Sohn auch an eine Frau, die ihre Launen an den Kindern auslässt, sie durch Nichtbeachtung manipuliert. Ihn, der die Mutter so innig liebt, trifft das besonders. Auch hat er intuitiv erfasst, dass die Eltern durch den gemeinsamen ausufernden Alkoholkonsum in eine Welt abdrifteten, in der die Kinder nichts zu suchen hatten: „Der Alkohol machte meine Eltern träge… Und am Ende saßen sie nur noch schweigend da und starrten auf die Straße. Dieses Schweigen war unerträglich. Unsere Eltern so verschwinden zu sehen, löste etwas in uns aus, wir sahen ihnen dabei zu, wie sie ganz allmählich resignierten.“

Der Blick der Unerreichbaren

Alle Versuche, die Mutter in den eigenen Familien-Alltag zu integrieren, laufen ins Leere oder enden in einer kleinen Katastrophe. Der Alkohol ist stärker, dem Sohn bleibt nur Resignation: „Dieser Blick. Man sieht kein Weiß in den Augen, es ist, als trieben die Augen eines anderen in ihrem Gesicht. Es ist der Blick der Unerreichbaren. Zum ersten Mal habe ich ihn mit fünf wahrgenommen.“

Konträre Erinnerungen

So lange schon hat die Mutter ein Alkoholproblem und will es nicht wahrhaben. Auch dann nicht, als sie ihren Beruf verliert. Doch schließlich  gelingt es den Brüdern  mit vereinten Kräften, sie in eine Klinik zu bringen. Und die Mutter schafft den Entzug, wird wieder zugänglich, empathisch. Aber ihre Erinnerungen sind andere: „Wir hatten es ziemlich gut, du und ich“, glaubt sie. Und der Sohn ahnt: „Mama hat alle bösen Erinnerungen verdrängt. Und alle schönen behalten. Bei mir scheint es umgekehrt zu sein.“

Letzter Gruß

Lange überlebt die Mutter die neue Zeit nicht. In ihrem letzten Willen legt sie fest, fern der Familie begraben zu werden. Dort, nahe der Holzkirche, wo einmal ihr Zufluchtsort war, wird sie keinen Besuch erhalten, denkt der Sohn: „Vielleicht wollte sie das so. Dieser Brief meiner Mutter war ein letzter Gruß, ihre Art, uns Söhnen ein für alle Mal zu sagen: ‚Vergesst es. Vergesst mich einfach.“

Schmerzhafte Auseinandersetzung

Alex Schulman lässt in „Vergiss mich“ den erwachsenen Sohn zu Wort kommen. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit sucht er nach Gründen für die Alkoholsucht der Mutter – und findet sie bei den hartherzigen Großeltern. So hart er mit der Mutter ins Gericht geht, so herzzerreißend klingen seine liebevollen Erinnerungen an mütterliche Zuwendung. Es ist eine so schmerzhafte wie intensive Auseinandersetzung mit der bedingungslosen Liebe eines Kindes zu seiner Mutter, mit Vernachlässigung, Manipulation und der verheerenden Wirkung von Alkoholmissbrauch.

Info Alex Schulman. Vergiss mich, aus dem Schwedischen von Hanna Granz, dtv, 253 S., 23 Euro

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