Letzte Kindertage auf Amrun

21. Mai 2024

Ein Hauch von Tom Sawyer oder Huckleberry Finn durchweht diesen autofiktionalen Roman über die Nordsee-Insel Amrun. Der bekannte Filmregisseur Hark Bohm (85) hat für das Buch den Autor Philip Winkler („Hool“) als Co-Autor an Bord geholt. Schon auf den ersten Seiten wird klar, dass es darin auch um die sinnliche Erfahrbarkeit der Insel geht, die Bohm in seiner Kindheit ans Herz gewachsen ist. Sein alter Ego ist der junge Nanning, der einem professionellen Ornithologen alle Ehre machen würde. Er erkennt die unterschiedlichen Möwenarten schon am Flug, weiß, wo sie brüten, kennt den Gesang der Lerchen und die Alarmrufe der Zwergseeschwalben. Die hört er immer öfter, denn am Himmel tauchen vermehrt Bombengeschwader auf. Es ist kurz vor Kriegsende.

Das Leben – ein Abenteuer

Noch haben Nanning und sein Freund Hermann wenig vom Krieg mitbekommen. Für die beiden Jungen ist das Leben auf der Insel ein Abenteuer. Doch es fehlt an Lebensmitteln, und Nanning fühlt sich dafür verantwortlich, für die hochschwangere Mutter und seine jüngeren Geschwister zu sorgen. Leicht ist das nicht, die Familie ist nicht beliebt.

Zwischen den Fronten

Nannings Mutter ist überzeugte Nationalsozialistin, sein – lange abwesender – Vater SS-Obersturmführer. Die bodenständigen Bauern dagegen wie Hermanns Familie hoffen auf ein schnelles Ende des Krieges und das Ende der Hitler-Diktatur. Das geht wohl auch der Schwester von Nannings Mutter so. Von Tante Ena erfährt Nanning, dass viele Amrumer in den USA leben, mehr als auf der Insel selbst. Auch sein Onkel Theo, an den der Junge nur gute Erinnerungen hat.

Beste Freunde

Doch jetzt ist Hermann sein bester Freund. Gemeinsam gehen die Buben auf Jagd, prügeln sich mit Mitschülern und helfen sich gegenseitig. Was täte Nanning ohne Hermann? Dabei muss er immer wieder über den eigenen Schatten springen, wenn es um das Wohl seiner Mutter geht. Ausführlich wird im Roman geschildert, wie Nanning lernt ein Kaninchen auszuweiden. Es geht um Leben und Tod, keine Zeit für romantische Gefühlsduselei. Alle müssen schauen, wo sie bleiben.

Die Schuldfrage

Und Nanning steht oft zwischen allen Stühlen. Auf der einen Seite die Hitler treue Mutter, der faschistische Vater, der Nazi-Onkel auf der benachbarten Insel Föhr. Auf der anderen Seite die Tante, die selbst schon in Amerika war, die kritischen Bauern. Und dann landen die Briten auf der Insel, leibhaftige Feinde – und mit ihnen Nannings Verwandtschaft. Auch sein Onkel Theo. Der lange abwesende Vater ist heimgekehrt, nur, um von den fremden Soldaten verhaftet zu werden. Ihnen gilt auch Nanning als belastet. Nur, wie schuldig kann ein Zehnjähriger sein?

Das Ende der Verlässlichkeit

Der Roman zeigt den Loyalitätskonflikt des Jungen, den Riss, der durch die Insel geht. Amrun ist auch ein Entwicklungsroman, geschildert aus der Perspektive des jungen Nanning. Er muss lernen, dass man in Zeiten des Krieges auch den Erwachsenen nicht trauen kann, nicht einmal der eigenen Mutter. Was also ist Gut, was ist Böse? Und wo bleibt die Liebe? Verlässlich ist der Freund, aber auch den wird Nanning am Ende zurücklassen.

Der Film von Fatih Akin

Hark Bohm und Co-Autor Philip Winkler schaffen in diesem Roman, in dem poetische Naturbeschreibungen mit skurrilen und dramatischen Szenen um Aufmerksamkeit wetteifern, ein eindrucksvolles Zeitporträt. Der Roman wird derzeit mit Regisseur Fatih Akin verfilmt, bald sollen die Dreharbeiten auf der Insel starten.

Info. Hark Bohm & Philipp Winkler. Amrun, Ullstein, 302 S., 23,99 Euro

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