Die Ich-Werdung einer Drusin

14. März 2024

Es ist eine für uns fremde Welt, die uns Haneen Al-Sayegh in ihrem Roman „Das unsichtbare Band“ vor Augen führt. Die hermetisch abgeschlossene Welt der Drusen, eine patriarchalisch orientierte Religionsgemeinschaft, die aus einer Abspaltung der ismailitischen Schia entstand. Hier wächst die ehrgeizige Ich-Erzählerin Amal auf, die sich durch Bildung von den Fesseln ihrer Familie und den archaischen Traditionen befreien will.

Das Schicksal der Mutter

Dass Mädchen und Frauen keine Rechte haben, will sie nicht akzeptieren. Auf keinen Fall will sie werden wie die Mutter, die sich tagtäglich für Mann und Kinder abrackert und sich dabei längst abhanden gekommen ist. Immerhin: Mit dem Backen von Brot verdient sie ihr eigenes Geld, das sie in den Schulbesuch ihrer Töchter investiert.

Flucht in die Ehe

Um dem strenggläubigen Elternhaus zu entkommen, heiratet Amal mit 15 den wohlhabenden Drusen Salem und zieht mit ihm in seine Villa. Kalt und leer erscheint ihr der ganze Luxus, mit dem ihr ungeliebter Mann sie umgibt. Aber sie kann ihm die Zusage abringen, ihren Schulabschluss machen zu dürfen und später sogar zu studieren. Um das zu erreichen, muss sie immer wieder auf die Wünsche ihres Mannes eingehen. Und obwohl sie nicht Mutter werden will, bringt sie für Salem eine Tochter zur Welt.

Erkaufte Emanzipation

Dieser Salem ist kein schlechter Mensch, aber er ist tief verwurzelt in der drusischen Gesellschaft und kann nicht verstehen, was seine junge Frau bewegt. Er ist ein liebevoller Vater und sogar als Ehemann relativ großzügig. Doch Amal will mehr, sie will über ihr eigenes Leben selbst bestimmen können. Deshalb hadert sie zunächst auch mit der Mutterschaft, die sie in ihrem Emanzipationsbestreben zurückwirft. Sie fühlt sich missbraucht, so als habe sie mit ihrem Körper die Erlaubnis zur Weiterbildung erkauft.

Verwurzelt in der Tradition

Verstanden fühlt sich Amal nur von ihrer älteren Schwester, der lebenslustigen Nermin, die mit Gad ihren Traummann heiratet und mit ihm nach Amerika geht. Doch auch Nermin wird nicht glücklich. Weit weg von der Heimat fühlt sie sich entwurzelt und sucht ihr Heil in einer Rückkehr zum strengen Glauben der Familie. Das unsichtbare Band der drusischen Gesellschaft hat sie nicht losgelassen.

Leben in zwei Welten

Amal dagegen wird lernen ihre Tochter zu lieben und trotzdem ihren eigenen Weg zu gehen, losgelöst von ihren Wurzeln. Dabei hilft ihr die Freundschaft zu dem von ihr bewunderten Islam-Kritiker Hamed Abdel-Samad, für den sie schließlich alles aufgibt, was ihr bisheriges Leben ausgemacht hat. Sie lässt sich scheiden und lebt fortan in zwei Welten.
Diese furchtlose und im besten Sinn respektlose junge Frau, die aus der Enge ihrer Familie ausbricht, um sich selbst zu finden, kennt Haneen Al-Sayegh gut. Amals steiniger, tränenreicher Weg in eine bislang nie gekannte Freiheit ist auch ihr Weg. Ein aufrüttelndes Buch, klug, poetisch und tiefgründig und von Hamed Adel-Samad einfühlsam ins Deutsche übertragen.

Hineingelesen…

in  die Tragödie der Mutterschaft

Meine Gedanken über Mutterschaft habe ich nie mit jemandem geteilt. Salem hat mich nie danach gefragt, und er wollte auch nicht wissen, ob ich überhaupt ein Kind haben wollte. Seit meiner Kindheit empfand ich die Mutterschaft als ein Dilemma und die Jahre, die ich in Einsamkeit verbrachte, halfen mit zu verstehen, warum. Ich hatte immer meine Mutter vor Augen, und es ist mir nie gelungen zu akzeptiere, was die Mutterschaft mit ihr gemacht hat. Ich habe gesehen, wie sie im Lauf der Jahre ihre Seele hingegeben hat, aber es hat nicht nur ihrer Seele geschadet, sondern auch ihrer Gesundheit – dem Muttersein wurden das Funkeln in ihren Augen und ihre Lebensfreude geopfert. Früher habe ich mich gehasst, wenn ich meine Mutter weinen sah, ich fühlt mich schuldig und hilflos gegenüber ihrem Kummer. Wenn mein Vater sie anschrie oder grob behandelte, war ich verbittert und bat sie, ihn zu verlassen. Aber sie sagte jedes Mal:
„Ich kann meine Kinder nicht verlassen, auch wenn er mich schlägt.“
Alle anderen Mütter, die ich kannte waren genauso müde und entstellt wie sie. Sie verbrachten ihr Leben damit, andere stillschweigend zu bedienen und Beleidigungen und Gewalt zu ertragen. Aber was das Leiden meiner Mutter noch größer machte, war ihr Bewusstsein. Sie war sich ihrer Tragödie bewusst, und sie konnte weder ihre Umstände ändern noch diese Realität als gottgewollt akzeptieren.

Info Haneen Al-Sayegh. Das unsichtbare Band, dtv, 336 S., 24 Euro

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