Die Wut der Mutter

26. August 2023

Sekunden der Gnade: Der Titel – im Original „small mercies“ – ist eher irreführend. Von Gnade ist in diesem aufrüttelnden Roman von Dennis Lehane („Shutter Island“) kaum die Rede. Lehane nimmt die Lesenden mit in das Boston der 1970iger Jahre, als es darum ging, schwarze Kinder in weißen Schulen zuzulassen. Für die irischstämmigen, weißen Vorstadt-Bürgerinnen und -Bürger eine Zumutung, gegen die sie sich mit aller Macht stemmen. Die Wut kocht hoch, Gewalt liegt in der Luft.

Tod eines jungen Schwarzen

In dieser aufgewühlten Atmosphäre kommt ein der junge Schwarze Augustus (Auggie) ums Leben, zu Tode gejagt von vier weißen Jugendlichen. Und dann ist Jules, die 17-jährige Tochter von Mary Pat verschwunden. Womöglich hängen die beiden Fälle zusammen. Mary Pats weißes Umfeld will davon nichts wissen. Doch die Mutter gibt keine Ruhe. Sie hat schon ihren Sohn Noel an Drogen verloren, steht allein, seit ihr zweiter Mann sie verlassen hat.

Eine Kämpferin und ihr Rachefeldzug

Und nun scheint es so, als hätte man ihre das Letzte genommen, das ihrem Leben noch Sinn gab – die Tochter. Mary Pat ist zu allem entschlossen, um herauszufinden, was passiert ist. Sie ist allein, aber stark, eine Kämpferin, die vor nichts und niemandem zurück schreckt. Ihr Rachefeldzug fordert Opfer. Vor allem aber zeigt er den Männern, die Jules Verschwinden verantworten, wozu diese Mutter fähig ist.

Erschreckende Gedanken

Es ist eine irische Gang, die das ganze Viertel beherrscht – mit ihren eigenen Gesetzen. Dass eine Frau blutige Rache übt, ist in ihrem Kodex nicht vorgesehen. Aber Mary Pats nicht eben feine Methoden bringen die Männer zum Reden. Was sie der Mutter von ihrer Tochter erzählen, erschreckt sie. Warum hat Jules bei der Jagd auf Augustus mitgemacht? Woher kommt dieser Hass? „Na ja, ich hab‘ sie großgezogen… Da fällt das wohl auf mich zurück.“

Verständnisvoller Polizist

Trotz ihrer Wut und ihrer Trauer beginnt Mary Pat nachzudenken, was falsch gelaufen ist in ihrem Leben und dem ihrer Tochter. Einen Ansprechpartner findet sie in dem Polizisten Bobby, der vielleicht für „kleine Gnaden, small mercies“ zuständig ist. Jedenfalls ist Bobby der einzige, der die Mutter versteht. Der einzige auch, der in der aufgeheizten Stimmung das Richtige tut.

Wichtiges Zeitzeugnis

Dennis Lehane hat mit Mary Pat eine starke Frauengestalt geschaffen, die unerschrocken ihren Weg geht – auch über Leichen. Das klingt nicht unbedingt sympathisch, aber ihr Hass hat gute Gründe. Und so wächst ein gewisses Verständnis für das, was sie tut, auch wenn es monströs erscheint. Dennis Lehane kennt Menschen wie die Protagonisten in seinem Roman, er weiß, wie sie denken, wie sie reden. Entsprechend authentisch wirken die teils erschreckend banalen Dialoge. Kein Buch für zarte Nerven, aber ein wichtiges Zeitzeugnis.

Hineingelesen…

… in Mary Pats Gedankenwelt

Die Third Baptist Church of the Blue Hills steht auf einem kleinen Flecken Land in der Hosmer Street im Herzen von Mattapan. Als Mary Pat klein war, lebte dort die Juden in wackligem Waffenstillstand mit den ärmeren Iren. Dann tauchten die Schwarzen auf, und die Juden zogen in die Vororte oder Teile von Brookline, während die Iren in Dorchester Fuß fassten oder nach Southie hineinwanderten. Synagogen und Bäckereien wichen Hähnchenrestaurants und Friseursalons. Auf der Suche nach einem Parkplatz in der Morton Street kann Mary Pat die Friseursalons, an denen sie vorbeifährt, gar nicht zählen. Geschweige denn die Plakate zur Rekrutenanwerbung, die für Mentholzigaretten und die Schnapsläden. Southie übertrifft Mattapan an Kneipen, aber wenn man sich Alkhol für zu Hause kaufen will, hat Mattapan die Nase vorn. Ein Parkplatz ist genauso schwer zu finden wie in Southie, und auch hier parken die Leute gern in zweiter Reihe. Die Wände und Schaufenster sind allerdings bunter – viele pulsierende Wandgemälde, wie man sie in Southie nirgends sieht, hellbunte Markisen und Männer wie Frauen gekleidet in tropischen Farben: leuchtendes Geld, Mangogrün, Zuckerwattenrosa. Bevor ihr zu kumbaya wird – hier könnt‘ ich doch wohnen und glücklich sein, wär‘ nur meine Hautfarbe nicht -, fallen ihr die vielen Gitter über den Ladenfronten auf, die vielen vergitterten Fenster, die vielen Risse und Schlaglöcher in den Seitenstraßen und die vielen Vorgärten, die so zugewuchert sind, dass man die Zäune nicht sehen könnte, wären sie nicht umgekippt und würden aus dem Unkraut ragen.
Ein bisschen Selbstachtung bitte, denkt sie auf einmal mit trotzigem Stolz.
Wir sind nicht gleich. Sie trägt ihren Fall einem unsichtbaren Richter vor, als sie rückwärts in eine Parklücke setzt. Sind wir einfach nicht.
Als sie die Zündung ausschaltet, starrt ein schrankbreiter junger Schlägertyp im Vorbeigehen zu ihr rein, der vielleicht überlegt, wie viel Geld sie dabeihaben könnte, oder noch finsterere Gedanken hegt.
Sie ahnt nicht, warum sie tut, was sie als Nächstes tut – Panik? – aber sie tut es: Sie lächelt. Strahlend freundlich, und schickt ein kleines Winken hinterher.
Der junge Mann – so schrankbreit auch wieder nicht, auch kein Schläger, nur arm, seine Klamotten sitzen nicht richtig – erwidert ihr Lächeln. Es mag ein etwas verwirrtes Lächeln sein, ein wenig zögernd, aber es ist freundlich, und für ihr Winken bekommt sie ein Nicken von ihm. Dann geht er weiter, eigentlich noch ein Junge, er konnte nicht älter als vierzehn sein.
Ein ungewohntes Entsetzen vor sich selbst überkommt sie. Ihr Tochter ist tot, Auggie Willamson ist tot, das Leben mehrerer Teenager, die an dem Abend auf dem Bahnsteig waren, ist zerstört, und sie grabscht immer noch in plumper Verzweiflung nach Möglichkeiten, sich ihnen überlegen zu fühlen.
Jemandem überlegen zu fühlen. Irgendwem.

Info Dennis Lehane. Sekunden der Gnade, Diogenes, 406 S., 25 Euro

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