Ein neuer Hiob

15. September 2021

„Du bist wirklich ein Kolibri“, schreibt die Freundin aus Kindertagen dem Augenarzt Marco Carrera. „Du bist ein Kolibri, weil Du wie die Kolibris, deine ganze Energie dafür verwendest auf der Stelle zu bleiben. Siebzig Flügelschläge in der Sekunde, um zu bleiben, wo Du bereits bist. Du bist großartig darin. Du schaffst es, in der Welt und in der Zeit anzuhalten. Du schafft es, die Welt und die Zeit um Dich herum anzuhalten, und manchmal schaffst Du es sogar, in der Zeit zurückzugehen, um die verlorene Zeit wiederzufinden, so wie der Kolibri fähig ist, rückwärts zu fliegen.“ „Der Kolibri“ heißt denn auch Sandro Veronesis neuer Roman über drei Generationen Familiengeschichte, für den der Italiener den renommierten Premio Strega erhielt.

Unbarmherziges Schicksal

Doch diese Generationengeschichte muss aus vielen Splittern zusammengesetzt werden, aus Briefen, Rückblenden, Gesprächen, Gedichten, philosophischen Abhandlungen. So erfährt man, dass Marco als Jugendlicher kleinwüchsig war und nur durch ärztliche Behandlung ein normales Wachstum erfuhr. Auch daher rührt der Name Kolibri. Dieser Kolibri wird im Lauf des Romans immer mehr zu einer Art neuem Hiob. So sehr er sich auch bemüht, das Schicksal schlägt immer wieder unbarmherzig zu. Wobei es auch positive Momente gibt – als der junge Carrera durch einen Zufall dem Tod von der Schippe springt. Und später noch, als er, der leidenschaftliche Spieler, absurd viel Geld gewinnt, das er verschmäht.

Gescheitertes Leben

Er sei sein Leben lang von Psychoanalytikern umzingelt gewesen, klagt der Augenarzt. Und Psychoanalytiker spielen denn auch in diesem Roman eine wichtige Rolle – und versagen meistens. Doch ganz unschuldig ist der Kolibri an seinem gescheiterten Leben nicht. Er wählt die falsche Frau und verzehrt sich ein Leben lang nach seiner Jugendliebe. Nach der Scheidung nimmt er seine Tochter zu sich und lässt ihr alle Freiheiten, „bis schließlich jener Anruf kam und er entdeckte, dass er wirklich ein vom Schicksal gezeichnet war, von Gott verlassen, viel, aber wirklich viel mehr, als er geglaubt hatte, dabei hatte er es schon seit dem Tod seiner Schwester Irene geglaubt, und er kam, der Anruf, den alle Eltern fürchten, aber nur wenige Unglückselige, Gezeichnete, Vorherbestimmte…“

Der neue Mensch

Nach der Schwester, der Frau, der Mutter verliert Marco auch die Tochter. Am Ende bleibt ihm nur die Enkelin, Miraijin, der neue Mensch. Veronesi hat seine Familiensaga als Puzzle angelegt, eine reizvolle aber auch schwierige Konstruktion. Hin und wieder ufern die Beschreibungen aus, manches tendiert ins Esoterische. Und doch behält der Roman einen ganz eigenen Reiz.

Hineingelesen…

… in Marcos Entwicklung

Marco seinerseits hatte, überwältigt von seinem Wachstum, nicht die Zeit gehabt, an irgendetwas zu denken. So hartnäckig sein Körper sich in der Vergangenheit geweigert hatte zu wachsen, so heftig wuchs er jetzt: er bewohnte diese Phänomen sozusagen und versuchte, schritt mit ihm zu halten… Er hatte sich keine Sorgen gemacht, hatte keinen Schreck bekommen, hatte sich nicht geschämt, hatte nicht die Geduld verloren und hatte keine Bedingungen gestellt; er hatte diese Revolution eher hingenommen, die ihm eine Formbarkeit und eine Widerstandskraft gezeigt hatte, die ihm in der Zukunft, wenn es hart auf hart käme, helfen würde zu überleben. Sein Körper hatte die Jugend übersprungen und sich von dem eines Kindes in den eines Erwachsenen verwandelt, aber das hatte ihn nicht traumatisiert, weil das, soweit er wusste, eben genau das Ziel der Behandlung war. Nach ein paar Jahren war das Kolibrisein für ihn nur noch eine Erinnerung wie alle anderen.
Ausgehend von dieser Erfahrung lief sein Leben jedoch immer auf die gleiche Weise ab: Jahrelang verharrte es im Stillstand, während diejenigen der anderen sich vorwärtsbewegten, und brach dann plötzlich in ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis aus, das ihn in ein neues , unbekanntes Anderswo schleudert. Fast immer löste der Übergang Schmerz aus, und die Frage, die ihn zu bedrohen begann mit ihrer Mischung aus Wut und Selbstmitleid, lautete: Warum gerade ich, warum gerade mir?

Info Sandro Veronesi. Der Kolibri, Zsolnay, 337 S., 25 Euro

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