Familienzusammenführung auf jüdisch

7. Oktober 2021

Nach „Mischpoke“ nun also „Schlamassel“. Und wieder taucht Marcia Zuckermann tief in die Familiengeschichte der Kohanim und anderer Juden ein. Am Beginn der turbulenten Verwicklungen, der Tragödien und Dramolette steht John Segall, der mit einem der letzten Kindertransporte nach England entkommen war. 1962 kommt er nach Europa, um eine Mizwa zu erfüllen, eine Sohnespflicht gegenüber seinem von den Nazis ermordetem Vater.

Weitläufige Verwandtschaft

Auf der Suche nach seinen Wurzeln wird er mit seiner über viele Länder versprengten Mischpoke konfrontiert. Anhand dieser oft skurrilen Charaktere beschreibt Marcia Zuckermann ohne jede Larmoyanz den Leidensweg der europäischen Juden, die den Horror des Dritten Reichs überlebten. Glück und Unglück liegen da schier untrennbar beieinander. Mit jüdischem Witz macht Zuckermann selbst die schlimmsten Erlebnisse der weitläufigen jüdischen Verwandtschaft erträglich.

Die Folgen des Holocaust

Doch selbst wenn die Vernichtungslager nur am Rand erwähnt werden, sind  der Holocaust  und seine Folgen auch in dieser Familiengeschichte allgegenwärtig. Da ist das Foto mit dem Strick um den Hals des Vaters, das John zu seiner Expedition verpflichtet. Da ist das feindliche Umfeld in England, das den elternlosen jüdischen Kindern das Leben schwer gemacht hat. Da ist die Reise auf dem Seelenverkäufer gen Palästina, die viele Passagiere nicht überlebten. Da ist die Flucht in die Schweiz, wo jüdische Immigranten wenig so willkommen waren wie Afghanen heute in Deutschland.

Zerrissene Familienbande

John hatte Glück, er ist in den USA ein gemachter Mann. Viel Massel hatte auch Georg Rubin, der in die Rolle eines wohlhabenden Professors schlüpfen und mit dessen Geld Johns Familienzusammenführung unterstützen konnte. Das ist eine mühsame Arbeit, denn die Mitglieder kennen einander kaum. Die Familienbande sind zerrissen – ein Schlamassel.
Es sind viele Fäden, die Marcia Zuckermann in ihrem Roman zusammenführen muss, so viele, dass die Lesenden schon mal den Überblick verlieren – trotz des Stammbaums im Buch. Vor allem im letzten Drittel zerfasert das sorgfältig konstruierte Erzählgewebe etwas.
Aber am Ende weiß man, dass es nach dem Schlamassel wohl weitergehen wird mit dieser jüdischen Mischpoke.

Hineingelesen…

… in Johns Stammbaum 

„Was gibt es Tröstlicheres, als nach dem Verlust eines geliebten Menschen einen verloren geglaubten wiederzufinden! Das ist eine große Freude! Ich trinke deshalb auch auf die Wiederkehr meines Onkels Georg, den ich das letzte Mal als Steppke in Osche gesehen habe. Zugegen, meine Mutter hätte ihn sicher nicht so gern wiedergetroffen, Benno und ich aber umso mehr! Onkel Georg ist der einzige Überlebende der Rubin-Familie. In den Alben unserer Mutter habe ich noch einige Fotos mit Georg und usnerem Vater gefunden. Gott hab ihn selig. Ich habe sie ablichten lassen und für dich gerahmt, Georg. Willkommen in der Familie! Le Chaim!“ Walter schiebt zwei Fotos in Silberrahmen über den Tisch, Georg bekommt vor Rührung feuchte Augen.
„Ganz lieben Dank, Walter. Aber dass ich wieder bei euch bin, verdanken wir alle John!“
Mit wedelnden Händen wehrt John das Kompliment ab. „Na, der Wahrheit die Ehre. Georg ist der hochherzige Gönner, dem wir es verdanken, dass ich alles über die Familie zusammentragen konnte, hauptsächlich aus Archiven in Polen. Er hat die Reisen und die Nachforschungen finanziert. Nach unserem Essen habe ich bei Else etwas vorbereitet, um euch meine Ergebnisse vorzustellen.“
Erwartungsvoll nehmen die trauergäste zwei Stunden später in Elses Tattersall Platz. ER ist abgedunkelt. An der Stirnseite ist eine Leinwand aufgespannt. Auf der gegenüberliegenden Seite macht sich John an einem Projektor zu schaffen. Er knipst den Projektor an, löscht die Zimmerlampe und zeigt das erste Bild. Es ist die Ahnentafel der Kohanims, die mit Baruch Kohanim und seiner Frau Rahel Halevi aus dem Jahr 1648 beginnt und über zweihundert Ahnen und Verwandte zeigt. John hat methodisch alle mit Namen, Daten, kleinen Vignetten ihrer Besonde3rheiten und mit Ordnungszahlen versehen…
Alle sind fasziniert oder so verblüfft, dass sie Kaffee und Kuchen vergessen haben.
„Was für eine Heidenarbeit! Wahnsinn!“, ruft Walter. John winkt ab und fährt fort. „Wegen dieses österreichischen Anstreichers aus Linz ist die Familie, die früher in Westpreußen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern ansässig war, heute über den ganzen Globus verstreut.“
„Aus Landeiern wurden Kosmopoliten! Irre!“, feixt Eva. „Sie nicht so vorlaut“, herrscht Hella sie an. Sprachlos starren alle weiter auf die Weltkarte und überlegen, was diese für sie bedeuten mag.
Rote Punkte darauf markieren die Standorte einzelner Familienangehöriger, es sieht aus, als hätte die Weltkarte Röteln. Schließlich fasst sich Else. „Was für eine Arbeit… Aber die Leute kennen wir doch alle gar nicht!“ „Genau das ist der Punkt“, erkläre ich. „Früher wären die alle zu Fränzes Beerdigung gekommen. Inzwischen hat man uns alle auseinandergerissen. Wir sind uns fremd geworden. Unsere Kinder sprechen inzwischen verschiedene Sprachen und verstehen einander nicht mehr.
Wir haben zwar überlebt, aber die Familie nicht!“

Info Marcia Zuckermann, Schlamassel, Frankfurter Verlagsanstalt, 400 S., 24 Euro

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