Ein Mord und sein Geheimnis

19. Juni 2023

Joël Dicker liebt verschachtelte Romane und Cliffhanger. Der erfolgreiche Autor führt seine Lesenden gern in die Irre, in Sackgassen und über Haarnadelkurven dicht über dem Abgrund. Das gilt auch für den neuen Roman „Die Affäre Alaska Sanders“, vom Verlag als „Die Fortsetzung des Weltbestsellers ‚Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert`“ angepriesen. Allerdings spielt Harry Quebert in diesem dicken Wälzer eine eher untergeordnete Rolle. Denn es geht, wie immer bei Joel Dicker, wild durcheinander.

Alter Fall, neue Erkenntnisse

Wieder steht der Schriftsteller Marcus Goldmann (ein alter Ego Dickers?) im Mittelpunkt – er ermittelt zusammen mit Sergeant Gahalowood in einem zehn Jahre alten Mordfall, der eigentlich aufgeklärt schien. Die junge Alaska Sanders war am Strand des beschaulichen Städtchens Mount Pleasant erschlagen aufgefunden worden. Der Hauptverdächtige hatte sich den Ermittlungen zufolge nach seinem Geständnis selbst erschossen, ein weiterer saß hinter Gittern. Doch dann bringt ein anonymer Brief Bewegung in den alten Fall. Nichts ist so wie es damals schien. Und heute?

Sein und Schein

Goldmann und Gahalowood machen sich auf die Suche nach dem wahren Täter. Die führt sie nicht nur zurück in die Zeit vor dem Mord an Alaska und von Mount Pleasant nach Salem, sondern noch weiter zurück in die Vergangenheit. Damals waren Walter Carrey und Eric Donovan beste Freunde. Doch dann ereigneten sich einige Dinge, die nicht nur diese Freundschaft auf eine harte Probe stellten. Es geht um Ehrgeiz und Konkurrenz, um Liebe und Rivalität, um Ansehen und Diskreditierung, um Lüge und Wahrheit, Schein und Wirklichkeit.

Alter Fall, neue Rätsel

Schriftsteller und Sergeant finden immer neue Gesprächspartner, die ihnen immer neue Facetten der Geschichte offenbaren. Schließlich stoßen die beiden auf einen anderen ungeklärten Fall. Die junge Eleanor, eine Rivalin Alaskas bei der Wahl zur Miss Neuengland, war nach einem Strandbesuch nicht mehr aufgetaucht.  Die beiden Ermittler ahnen, dass es noch mehr Zusammenhänge gibt. Einen Mann womöglich, der mit beiden Frauen in Verbindung stand?

Puzzle mit vielen Teilen

Erneut fügen sie alle Indizien, die sie gesammelt haben, zusammen wie in einem Puzzle. Alles scheint zu passen. Oder doch nicht? Haben sie etwas übersehen? Joël Dicker hält gekonnt die Spannung bis zum Schluss, auch wenn er zwischendurch Harry Quebert über das Leben als Autor philosophieren und Marcus Goldmann von seinen Büchern schwadronieren lässt. Man bleibt dran, wird hineingezogen in die Verdächtigungen, zieht eigene Schlussfolgerungen und ist am Ende doch verblüfft, wie eins zum anderen passt. Die perfekte Urlaubslektüre also.

Hineingelesen…

… in Harry Queberts Auftritt

Seine Stimme klang wie aus dem Grab.
„Harry, ist alles in Ordnung?“
„Es geht um Ihr Buch, Marcus. Die Lage ist ernst. Ich habe etwas entdeckt, das mich beunruhigt. Ich muss mit Ihnen sprechen. Sie müssen nach Aurora kommen.“
Jetzt?“
„Ja, jetzt.“
Er schien nicht ganz bei Sinnen, und ich versprach ihm, mich sofort auf den Weg zu machen. „Ich fahre gleich los, ich bin in fünfundvierzig Minuten da.“
Ich legte auf. Emma starrte mich besorgt an.
„Was ist los, Marcus?“
„Harry muss mit mir über mein Buch sprechen.“
„Was, jetzt? Du willst mitten in der Nacht nach New Hampshire fahren, um über dein Buch zu reden?“
„Er sagte, es sei ‚ernst‘.“
„Ernst?“ ereiferte sie sich. „Ernst ist, dass du dich wie ein Dieb aus dem Staub machst! Dein Buch kann warten bis morgen früh! Geh nicht hin.“
„Es tut mir leid, Emma. Harry ist ein Freund, er scheint mich gerade zu brauchen.“
„Du gehst doch nicht wegen Harry hin, du gehst nur wegen deinem verdammten Buch!“
Ich zog mein T-Shirt an und schlüpfte wieder ein meine Schuhe.
„Wenn du durch diese Tür gehst…“ , drohte Emma, außer sich.
„Was, wenn ich durch diese Tür gehe?“
„Wenn du durch diese Tür gehst, dann bist du nicht mehr der Marcus, den ich kannte.“
„Du kennst mich erst seit fünf Monaten.“
„Wenn du gehst, Marcus, dann ist es vorbei.“
„Warum? Weil ich gehe, um einem Freund zu helfen?“
„Du folgst hier doch nicht Harrys Ruf! Du folgst dem Ruf deines Ehrgeizes. Dein Ehrgeiz wird dein schlimmster Dämon sein. Er wird dich auffressen. Wenn du ihn nicht zügeln kannst, werde ich nicht bei dir bleiben.“
Ich sollte Emma erst fünf Jahre später wiedersehen, als ich Ende Juni 2010 vor ihrem Laden in Cambridge stand.
Am Abend des 30. August 2005 war es fast Mitternacht, als ich in Aurora ankam. Ich fuhr die stockdunkle Ocean Road entlang und erreichtet Goose Cove. Harrys Haus war dunkel, doch mein Ford stand davor. Er musste also zu Hause sein. Ich klopfte an die Tür, erhielt aber keine Antwort. Ich beschloss hineinzugehen. Ich war beunruhigt. Im Wohnzimmer war niemand. Ich rief. Kein Lebenszeichen. Ich ging hinaus auf die Terrasse und sah eine Gestalt am Strand, die in ein Holzfeuer starrte. Das war er. Ich ging zu ihm.
„Harry?“
Er starrte mich seltsam an. „Oh Marcus, Sie sind gekommen!“
Er war offenbar völlig betrunken. Eine Whiskyflasche lag im Sand. Er hob sie auf und reichte sie mir. Ich trank einen Schluck, um ihn nicht zu beleidigen. Ich spürte mein Herz in meiner Brust hämmern. Noch nie hatte ich ihn in einem derartigen Zustand gesehen. „Was ist los, Harry?“
Er musterte mich mit glasigen Augen, dann sagte er: „Sie sind mehr als nur ein Schriftsteller, Marcus: Sie verstehen es zu lieben. Ich weiß das, ich habe es in Ihrem Buch gelesen. Das ist eine seltene Begabung.“
Ich wiederholte meine Frage noch einmal: „Was ist los,Harry?“
„Heute ist der 30. August 2005, Marcus. Das geht jetzt genau dreißig Jahre so.“
„Was geht dreißig Jahre so?“
„Seit dreißig Jahren warte ich auf sie.“
„Auf wen denn?“
Er wich meiner Frage aus: „Sie können sich nicht vorstellen, wie es ist, wenn jemand plötzlich aus Ihrem Leben verschwindet und Sie nicht wissen, was mit dieser Person passiert ist. Ist sie tot? Oder lebt sie noch irgendwo? Denkt sie an Sie, wie Sie an sie denken?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann, Harry.“
„Das ist ganz normal. Können Sie ein Geheimnis bewahren, Marcus? Die Schwierigkeit bei einem Geheimnis besteht nicht so sehr darin, es nicht zu verraten, sondern damit zu leben.“

Info  Joël Dicker. Die Affäre Alaska Sanders, Piper, aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma, 575 S., 26 Euro

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