Glücklos zwischen den Welten

11. November 2021

Bodo Kirchhoff gehört zu den renommiertesten deutschen Autoren und zu meinen Lieblingsschriftstellern. Doch mit seinem „Bericht zur Lage des Glücks“ hat er mich verunsichert. Was soll uns dieser dicke Wälzer sagen, in denen alles aus der Perspektive eines namenlosen, ichbezogenen Mannes erzählt wird? In aller Ausführlichkeit und in oft verschachtelten, schwer lesbaren Sätzen. In einer bedeutungsvoll aufgeladenen Sprache, die vielleicht darauf hindeuten soll, dass der Erzähler Journalist bei einer Kirchenzeitung war. Desillusioniert zwar aber immer noch geprägt von einer Art Sendungsbewusstsein.

Rätselhafte Afrikanerin

Doch die Sprache und der Stil allein sind nicht mein Problem mit dem Buch. Es geht um den Inhalt. Die Geschichte ist ziemlich vertrackt: Der namenlose Erzähler gabelt auf einer Nostalgie-Reise durch Italien, auf der er seine Trauer über das selbstverschuldete Ende seiner Beziehung mit der Physiotherapeutin Lydia verarbeiten will, eine rätselhafte Afrikanerin auf. Die ebenfalls Namenlose ist aus ihrer afrikanischen Heimat geflüchtet und vertraut sich ihm und seinen Fahrkünsten an.

Die Sache mit den Fotos

Da weiß der Mann schon, dass es sich bei dieser Afrikanerin um die Frau handelt, von der es keine Fotos gibt. Denn statt der erwarteten Porträts sind aus unerfindlichen Gründen nur Szenen aus ihrem afrikanischen Dorf zu sehen. Ein gefundenes Fressen für den Boulevard, der mit den tollsten Geschichten über die Migrantin mit der „Figur einer Hochspringerin“ aufwartet. Auch der Erzähler macht sich zunächst Hoffnungen auf eine gute Geschichte womöglich fürs Radio.

Abscheuliche Sensationsgier

Doch während das ungleiche Gespann auf vielen Umwegen durch den italienischen Stiefel fährt immer auf der Suche nach einem wenig vertrauenswürdigen Cousin der Frau, wird ihm die Fremde zur anbetungswürdigen Weggefährtin. Was ihn nicht daran hindert, den Verkauf ihrer Geschichte zu planen – mit dem neuen Partner seiner Ex-Freundin, dem erfolgreichen Fernsehreporter Cordes. Das kann nicht gut gehen. Während der Fernsehmann skrupellos sein Ziel verfolgt, mit der schwarzen Grazie eine Sensationssendung zu machen und sie dafür auch den Ressentiments eines faschistoiden Kleiderfabrikanten ausliefert, bleibt der Erzähler nicht nur untätig, er verstummt – und sein Schützling ergreift die Flucht.

Symbole und Bibel-Zitate

Nach dem Sprung aus dem dritten Stock bleibt die Frau verschwunden. Auf der Suche nach ihr kommt es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Erzähler und dem frustrierten TV-Reporter, die für diesen tödlich endet. Denn der bislang so Untätige erschlägt den Gegner mit einem Stein. Die ganze Erzählung bis dahin ist derart mit Symbolen aufgeladen und mit Bibel-Zitaten gespickt, dass der Bezug zur Realität abhanden zu kommen droht. Ja, er wird ähnlich überlagert wie die Fotos der Afrikanerin.

Die Liebe der Kindheitsfreundin

Und der Täter ist längst schon im Herzen der Finsternis angekommen – in jenem Dorf, in dem er den Fotos zufolge seine afrikanische Weggefährtin sucht und wo er seine Beichte niederschreibt. Den größten Teil der Geschichte hatte er nach seiner Flucht aus Italien seiner Kindheitsfreundin Maren erzählt. Und Maren, die an ihrer Kirche verzweifelnde Pfarrerin, reist ihm nach ins selbst gewählte Exil. Mit ihr kommt es zu jenen Liebesszenen, von denen er mit der Afrikanerin nur träumen konnte. Doch auch Maren verlässt den Vereinsamten.

Rückkehr zum Leiden

Einen gewissen Trost findet er im Austausch mit dem Polizeikommandanten, der wie er der entschwundenen schwarzen Schönheit hinterher trauert. Am Ende kehrt der Mann zurück in seine Stadt. Er will nun doch Lydia beistehen, die vor seiner Reise nach Afrika auf dem Weg zu ihm verunglückt ist. Doch da ist schon ein anderer. Der Liebesreigen ist vorbei,  Corona übernimmt.

Wenig Erkenntnis

Was bleibt ist ein großes Rätsel – und das nach über 600 Seiten, in denen Themen wie Rassismus, Tabus, Flucht und Traumata abgehandelt werden bis hin zu Corona. Meine Erkenntnis: Der „Bericht zur Lage des Glücks“ handelt von dessen Unmöglichkeit. Dafür habe ich mich durch ausufernde, selbstgefällige Satzkaskaden gekämpft, habe mich bei manchen Szenen auf der Italienfahrt fremdgeschämt und mich doch immer wieder von einem unerklärlichen Sog, den diese Erzählung trotz allem entwickelt, mitreißen lassen.

Hineingelesen…

… in die Italienreise

Zwei der andächtigsten Stunden, an die ich mich erinnern kann, waren nachts am Steuer eines Autos bei Fahrten ohne klares Ziel (oder nur dem unbestimmten Ziel des Glücks), die Fenster heruntergelassen für eine Luft wie angereichert von ihrer Wärme und den mitgeführten Gerüchten, einmal nach Salz und Tang, neben mir Lydia und ein Meer in der Nähe – wir hatten uns an der französischen Atlantikküste bei Arcachon in einer Landschaft aus Dünen und niederem Kiefernwald auf sandigen Nebenstraßen verfahren,  hoffnungslos, wie es schien und irgendwann angehalten, um uns zu lieben und den Morgen abzuwarten, beide sehr leise bei diesem Tun, obwohl wir ja allein auf weiter Flur waren, leise, um das, was uns andächtig stimmte, nicht zu stören. Und beim zweiten Mal war es eben jene Fahrt nach ein paar Stunden Schlaf im freien, neben mir eine junge Frau, vor sich hin träumend zur Fahrerseite geneigt, dabei aber wach genug, mich hin und wieder am Arm zu berühren, damit ich aufmerksam bleibe, weiter und weiter fahre, bis sich dort, wo ihrer Ansicht und der Karte nach das bessere, glücklichere Leben nur noch eine Tagesreise entfernt, war, der Morgenhimmel auftut – ausgelaugt oder unschuldig rein, aber das eine Ansichtssache.
Erst nur in den Kurven, bald aber auch auf gerader Strecke lag der Koipf der Afrikanerin an meiner Schulter, und wenn ich beide Stunden andächtig genannt habe, ist in beiden Fällen etwas gemeint, wie es sonst etwa in einer leeren Kirche entsteht, nur mit einem selbst zögerlich im Mittelgang, wenn plötzlich auf der Empore ein auch zögerliches Orgelspiel anhebt. Mich hat der Kopf an meiner Schulter erschauern lassen, nicht sofort, weil es erst den Anschein des Versehentlichen hatte, aber als der Kopf schwer wurde, kam dieses Schauern – das sie aus einem Halbschlaf geholt hat und in einer Weise, fast mehr an sich als an mich gewandt, reden ließ als wäre es die Fortsetzung von etwas gerade Geträumten. Seit bald einem Jahr sei sie jetzt unterwegs, ohne einmal aufgeatmet zu haben, „without any deep breath“, das waren ihre ersten noch schläfrigen Worte. Und dass sie seit dem Tod ihrer Eltern und der Zeit im Haus des Polizeikommandanten nur noch geatmet habe, um nicht zu ersticken, und nur noch gegessen, um nicht zu verhungern und nur noch geschlafen, um wieder zu atmen und wieder zu essen und von dem Ort wegzukommen für immer…  Alles wäre dort ruhig ohne den Grenzfluss und die Minen auf der anderen Seite, die Bodenschätze, auf die alle Welt aus sei, besonders Coltan, das neue Gold in jeder Tasche jedes Menschen – und sie rechnete mir vor, was für Mengen an Coltan nötig seien, damit Milliarden von smartphones funktionierten.

Info  Bodo Kirchhoff. Bericht zur Lage des Glücks, Frankfurter Verlagsanstalt, 603 S., 28 Euro

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