Im Wahn der Selbstoptimierung

12. Oktober 2023

Schönheitsoperationen boomen, Influencer werben für Selbstoptimierung. Der Traum von der ewigen Jugend, ja selbst vom ewigen Leben, scheint realisierbar. In ihrem spannenden Thriller „Die Verheißung“ nimmt sich Petra Ivanov dieses heißen Themas an. Der erste Teil ihrer Kyro-Trilogie entführt die Lesenden in die Welt der Transhumanismus-Forschung, wo die Grenzen zwischen Leben und Tod immer mehr verschwimmen. Ist alles, was möglich ist, auch unter moralischen Gesichtspunkten akzeptierbar?

Blutplasma zur Verjüngung

Es sind existentielle Fragen, die Petra Ivanov in ihrem Thriller verhandelt. Denn die Protagonistin Julia gerät auf der Suche nach ihrem verschollenen Sohn Michael ins Fadenkreuz profitgieriger Unternehmen. Da wird skrupellos Blutplasma von Kindern zur Verjüngung verkauft, werden Tote eingefroren, um dereinst wieder zum Leben erweckt zu werden. Dass bei alldem auch mit kriminellen Methoden gearbeitet wird, erschließt sich Julia schnell, als sie bei ihrer Suche mit dem ersten Ermordeten konfrontiert wird. War Michael verbrecherischen Auswüchsen des Selbstoptimierungshypes auf der Spur? Und was hat der Tod des vierjährigen Jesse mit alldem zu tun?

Folgenschwere Recherche

Michael hatte zur Überraschung Julias seinen Beruf als Chirurg an den Nagel gehängt und war als investigativer Journalist in die USA gereist. Nach einem Besuch im Elternhaus verschwand er spurlos. Doch Julia gelingt es, den verschlungenen Wegen seiner Recherche zu folgen. Während sie ihm immer näher kommt, werden ihre Gesprächspartner ermordet. Auch ihr Lebenspartner entgeht nur knapp einem Mordanschlag. Wer hat Interesse daran, dass sie scheitert? Und warum bleibt sie selbst verschont?

Fortsetzung folgt

In einem zweiten Erzählstrang begegnen die Lesenden Michael in einer Art Zelle. Wer ihn gefangen hält und wozu, erschließt sich erst nach und nach – ebenso, wie das alles mit Julias Vergangenheit und ihrem ehemaligen russischen Geliebten Andrej und seinem Bruder Pawel, einem erfolgreichen Transhumanismus-Unternehmer zusammenhängt. Julia ist noch längst nicht am Ziel ihrer Suche. Sie wird nach Russland reisen, ins Heimatland von Andrej und Pawel. Was sie da erwartet, wird sicher genauso aufregend wie ihre Recherche in den USA. „Die Versuchung“ heißt der zweite Teil der Trilogie, den die Lesenden sicher mit Spannung erwarten.

 Hineingelesen…

… in Utopie und Wirklichkeit

Michael hatte Gideon Larsen bereits in Deutschland angeschrieben, und Larsen hatte einem Interview sofort zugestimmt. Wenn nichts dazwischengekommen war, hatten sie sich am zweiten Tag der Konferenz zu einem Abendessen getroffen. Drei Tage später hatte sich Larsen wieder gemeldet und Michael geraten, das gnostische Evangelium des Thomas zu lesen. Er schreib, dass schon die Gnostiker im Menschen einen göttlichen, im Fleisch gefangenen Geist gesehen hätten, und behauptete, der Transhumanismus sei nichts anderes als eine wissenschaftliche Neuinterpretation der gnostischen Häresien. Julia war in Theologie nicht bewandert, sie wusste nur, dass das Thomasevangelium unter Christen umstritten war. Offenbar hatte Larsen die Parallelen zwischen Christen und Transhumanisten aufzeigen wollen, denn er unterstrich, dass für beide die Erlösung in der Befreiung aus dem Körper bestand.
Michael hatte erst drei Tage später geantwortet. Er nahm Bezug auf ein Telefongespräch. Julia vermutete, dass sie die Diskussion mündlich fortgesetzt hatten. In seiner Mail erklärte er, dass er beschlossen habe, nach Seattle zu reisen. Weitere zwei Tage verstrichen, diesmal war es Larsen, der schrieb. Er wollte wissen, ob Michael den Jungen gefunden hatte.
Meinte er den vierjährigen Jesse? Vielleicht hatte Michael ihm am Telefon von dem Zeitungsartikel erzählt. Julia dachte über die seltsame Wortwahl nach. Der Junge war doch gestorben, wie sollte ihn Michael da finden? In dem Ordner gab es keine weiteren Mails. Sie startete den TOR-Borwoser. Jesses Tod hatte eine heftige Diskussion über die steigende Anzahl von Obdachlosen ausgelöst. In dem alten Wohnwagen, der ihm als Zuhause gedient hatte, gab es weder fließendes Wasser noch Strom. Für die Boulevardpresse waren die schlechten hygienischen Verhältnisse schuld an seinem Tod. Differenziertere Stimmen räumten ein, dass die Lebensverhältnisse sein Immunsystem möglicherweise geschwächt, jedoch kaum zu einem Herzversagen hatten führen können. In einem Punkt herrschte Einigkeit: Jesse hätte nicht sterben müssen. Das Sozialsystem hatte versagt, die Städte waren nicht in der Lage, die dringlichsten Probleme zu lösen. Seit sich Tech-Unternehmen an der Westküste niedergelassen hatten, waren die Immobilienpreise in die Höhe geschnellt. In Mountain View, der Heimat von Google, hatte die Bevölkerung eine Obdachlosensteuer gutgeheißen. Ebenso in East Palo Alto, wo Amazon eine Niederlassung hatte. In San Francisco, dem Epizentrum der Obdachlosigkeit, war ein Rechtsstreit im Gange.
San Francisco. East Palo Alto. Mountain View. Heimat des digitalen Utopismus, dem viele Transhumanisten anhingen. Zufall? Oder hatte Michael eine Verbindung gesehen?

Info  Petra Ivanov. Die Verheißung, Unionsverlag, 330 S., 19 Euro

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