Lebenslügen

15. April 2023

Martin Suter mag es edel.  Auch in seinem neuen Roman  Melody  öffnet er die Tür zu einem stilvollen Haus, in dem der Eigentümer, einst hohes Tier in Politik und Wirtschaft, als gebrechlicher alter Mann residiert. Umhegt von Butler und Köchin. Doch Dr. Peter Stotz reicht es nicht, dass er sich alles leisten kann; er braucht jemanden, dem er imponieren, mit dem er reden kann. Deshalb engagiert er den angehenden Juristen Tom als eine Art Privatsekretär.

Verführerischer Luxus

Für Tom, der aus kleinen Verhältnissen stammt, ist es der Eintritt in eine neue Welt, in der Geld keine Rolle spielt und  in der alles käuflich scheint – auch Zuwendung. Verwöhnt mit besten Weinen und feinsten Speisen, gewöhnt sich Tom an das Leben im Luxus. Und zunehmend hegt er auch Sympathie für den einsamen Alten, der ihm von seiner großen Liebe erzählt: Melody.

Die verschwundene Liebe

Ihr Bild findet sich überall in der Villa, oft mit Blumen geschmückt wie ein Schrein. Dabei ist es Jahrzehnte her, dass sie verschwunden ist, kurz vor der Hochzeit und unter Zurücklassen des Hochzeitskleides. War Melody vor ihrer muslimischen Familie geflohen, die sie wegen der Verbindung mit einem Nicht-Muslimen bedrohte?  Wurde sie gefangen gehalten?  Stotz sucht seine verschwundene Liebe ein Leben lang – so erzählt er es Tom.

Das Bild von Melody

Doch was ist Wahrheit, was ist Wunschtraum? Wie verlässlich ist die Erinnerung? Wie sehr kann Tom den Erzählungen trauen, die ihm eine junge, schöne Marokkanerin vor Augen führen, eine  Buchhändlerin mit einem eigenen Literaturverständnis? Nachvollziehbar, dass der 42-jährige Junggeselle Dr. Stotz ihr verfällt, auch wenn sie ihn keusch auf Abstand hält. Aber wer ist oder war diese so idealisierte Melody wirklich?

Spuren ins Nichts

Tom beginnt zu recherchieren, unterstützt von Stotz‘ Nichte Laura, mit der ihn bald mehr verbindet als das Interesse an Melody. Aber die meisten von Stotz gelegten Spuren führen ins Nichts. Und schon bald bekommt das Bild, das sein Arbeitgeber von Melody gemalt hat, Risse. Kaum etwas ist wie es scheint. Das müssen auch Tom und Laura erfahren.

Fakten und Fiktion

Wie sagte doch der mit Dr. Stotz befreundete Schriftsteller Schären in einem Gespräch: „In der Fiktion steckt oft mehr Wahrheit als in den Fakten“. In diesem Sinn steckt auch in diesem so elegant formulierten Roman viel Wahrheit.

Hineingelesen…

…in die Abrechnung des Dichters

Bruno Schären stellte das leere Glas artig auf den Tisch.
„Dich meine ich nicht, Laura. Ich habe dich immer gemocht, das weißt du,. Du bist verwandt. Die einzige Erbin, das ist normal, das geht in Ordnung, du erbst alles, du kannst nichts dafür.“
Dann wandte er sich grimmig an Frau Favre, Roberto und Tom.
„Bitte Bruno. Bleib friedlich“, bat ihn Tom mit sanfter Stimme.
„Friedlich! An eurer Stelle wäre ich auch friedlich. Ihr habt jetzt ausgesorgt. Ein Bier. Kann ich wenigstens ein Bier haben, Laura?“ Es klang etwas weinerlich.
Sie sah zu Roberto und nickte. Er ging hinaus in die Küche.
„Fünfzigtausend! Ein Witz! Gleich viel wie der Schneider! Über vierzig Jahre lang hat er so getan, als wäre ich sein bester Freund. Dabei war ich nur eines seiner kulturellen Accessoires. Das literarische Einstecktüchlein. Was ich alles für den Mann getan habe! Sogar an seiner Abdankung vor allen Leuten einen Weinkrampf hingelegt.“
Roberto brachte ein Bier und ein Glas, aber Schären nahm ihm die Flasche aus der Hand und setzte sie an die Lippen. Dann fuhr er fort: „Wie viele Stunden meines Lebens habe ich mich von ihm und seinen Geschichten langweilen lassen. Von seiner Melody! Der Tragödie seiner großen Liebe! Die Entführte. Die Gefangene. Die Ermordete. Die Versteckte. Immer nicken, immer mitfühlen. Nie sagen dürfen: Vergiss sie. Die wollte einfach keinen alten Sack heiraten und ist noch kurz vor Torschluss abgehauen. Wahrscheinlich mit einem anderen. Mit einem jüng-e-ren, verstehst du?“
Er trank noch ein paar Schlucke. „Stattdessen habe ich mitgespielt, teilgenommen. Getan, als glaubte ich auch, dass sie noch irgendwo auf der Welt darauf wartete, von ihm gefunden zu werden. Er gab die tragische Figur. Tüchtig, erfolgreich, Brillant, aber mit gebrochenem Herzen. Und treu. So das Image , das er sich aufgebaut hatte. Er war nicht einfach ein Unternehmer, Offizier, Kulturfreund wie viele andere. Er war ein Mann mit einer faszinierenden Geschichte.“
Wieder trank er: „Und ich Idiot habe ihm geholfen dabei. Und als er mit der Zeit begann, wirklich daran zu glauben und nicht nur so zu tun, spielte ich ihm vor, ebenfalls daran zu glauben. So ein Affentheater! Und jetzt: Euch für das bisschen Kochen, das bisschen Kellnern und das bisschen Sekretärlen die Million. Mir die Almosen. Da scheiß ich drauf!“

Info Martin Suter, Melody, Diogenes, 332 S., 26 Euro

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