Neugier auf sich und andere

4. Mai 2022

Für Christian Schüle ist das Reisen nicht nur eine Leidenschaft, sondern eine Notwendigkeit. „Weil die Bereisung der Welt lehrt, dass jeder Mensch überall er selbst zugleich ein Fremder ist“, schreibt er im Vorwort zu dem philosophischen Buch „Vom Glück unterwegs zu sein“. Unterwegs war der Autor in aller Welt, wobei es ihm weniger um die Sehenswürdigkeiten oder um Instagram-fähige Fotos ging als um die Begegnung mit anderen Menschen und ihren Sitten.

Herausfordernde Begegnungen

Bei der Erklärung, warum der Mensch überhaupt aufbricht, beruft er sich auf literarische Vorbilder von Grimmelshausen über Daniel Defoe und Jean-Jacques Rousseau bis Robert Louis Stevenson und Heinrich Heine. „Wer vom anderen nichts weiß, weiß nichts von sich“, ist Christian Schüle überzeugt. Aber diese Überzeugung und die Neugier auf andere bringt ihn hin und wieder auch in schwierige Situationen: Etwa in Äthiopien, wo er nicht weiß, wie er bei einer armen Familie Gast sein kann, ohne die letzten Vorräte zu verbrauchen. Bei Stammesältesten in Afrika, für die es außerhalb jeder Vorstellung ist, Mädchen nicht beschneiden zu lassen. Oder im Gespräch mit einem überzeugten Muslim über die Pflichten der Frauen.

Auf Abwegen zum Genuss

„Als Europäer hatte man in diesen Momenten kein Recht, auch nur irgendetwas zu sagen“, ist Christian Schüle überzeugt. „Nichts wäre freilich leichter als vom hohen Ross des Dünkels herab den Stab über andere Kulturen und Menschen zu brechen, ohne die Macht ihrer Normen je verstanden oder gespürt zu haben.“ Er reist als lebenslang Lernender, begibt sich auch auf Abwege und genießt den Tanz der Nordlichter ebenso wie eine ausufernde Untergrundparty in England oder die Verwirrungen in heißen Tokioter Nächten.

Reisen mit Respekt

Dabei ist ihm immer auch der Zwiespalt bewusst, in dem der Reisende steckt: „Er trägt zu einem Phänomen bei, von dem er sich selbst gerne ausnimmt. Warum? Weil er Teil eines Problems ist, dessen Lösung streng genommen nur darin bestehen könnte, gar nicht mehr zu reisen.“ Und doch ist er überzeugt, dass Reisen wichtig, ja notwendig ist – am besten auf eine Mensch und Natur schonende Art und mit Respekt: „Man reist aus Gründen der Moral und der Menschlichkeit.“

Veränderte Wirklichkeit 

Das Buch entstand noch vor Putins Überfall auf die Ukraine und feiert die Öffnung nach Osten. Im letzten Kapitel geht es um Odessa, die Hafenstadt, die derzeit immer wieder unter Raketenbeschuss liegt: „Die Sonne schien. Odessa hatte uns warm und heiter aufgenommen… Der Blick auf Odessas Hafen war auf surreale Art grandios.“
„Nichts ist großartiger als die Wirklichkeit“, schreibt Christian Schüle da auch. Sie bringe „zu jedem Moment das immense Wissen über die gesamte Welt“ hervor, „und wenn es nur ein Seufzer Zeitläufte ist.“ Da wusste der Autor noch nicht, wie schnell sich die Wirklichkeit und das Wissen über die Welt ändern kann…

Info
Christian Schüle. Vom Glück unterwegs zu sein, Siedler, 252 S., 22 Euro

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