Wie Hänsel in Georgien

15. Februar 2024

Leo Vardashvili hat bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Tbilissi gelebt und ist heute in England zu Hause. Sein Roman „Vor einem großen Walde“ führt tief hinein in sein versehrtes Land – und in die georgische Seele. Was für ein Buch: Tragisch, komisch, märchenhaft, gespenstisch. Ein Zauberbuch, das mit einer Schnitzeljagd in Georgien beginnt und mit einem Escape Game in Ossetien endet.

Flucht nach England

Der Ich-Erzähler Saba ist noch ein Kind, als er mit Bruder und Vater aus den Bürgerkriegswirren in Georgien nach England flieht. Die Mutter muss zurückbleiben, weil das Geld fehlt, aber ihr Fehlen prägt das Leben der Geflüchteten. Der Vater, Irakli, arbeitet sich ab, um sie nachkommen zu lassen, und als er endlich das Geld zusammen hat, verliert er alles an einen Betrüger, einen Landsmann. Dann stirbt die Mutter, ohne ihre Söhne noch einmal gesehen zu haben. Und Irakli, der nie in England Fuß gefasst hat, begibt sich auf Spurensuche in der alten Heimat.

Die Geister  der Vergangenheit

Als seine Söhne nichts mehr von ihm hören, macht sich der Ältere, Sandro, auf die Suche. Doch auch von ihm kommt irgendwann keine Nachricht mehr – und so reist Saba ihm nach. Schon am Flughafen fühlt er sich beobachtet, man nimmt ihm den Pass ab, fragt ihn nach Vater und Bruder. Saba ist verunsichert, zumal ihn in Tbilissi die Geister der Vergangenheit heimsuchen. Auch der Geist der Kinderfreundin Nino, für deren Tod sich Saba verantwortlich fühlt.

Die Brotkrumenspur

Diese Geister werden ihn auf seiner Spurensuche begleiten – und der Taxifahrer Nodar, zu dem Saba schnell Vertrauen fasst. Zunächst kann der junge Mann einer Brotkrumenspur seines Bruders folgen wie der Hänsel im Märchen. Aber seine Verfolger sind ihm immer nah. So nah wie die Geister in seinem Kopf. Die Spur, die Sandro gelegt hat, führt Saba zu dem Mann, der seine Mutter bis zu ihrem Tod begleitet hat. Die Begegnung mit dem Schwerverletzten macht ihm klar, warum Irakli auf der Flucht ist.

Vor einem grossen Walde

Der weiteren – literarischen Spur – folgen kann er nur mit Hilfe von Nodar. Sie führt an die Grenze Georgiens in ein abgelegenes Kloster und von da über lebensgefährliche Wege bis nach Ossetien vor einem grossen Walde, wo Nodar nach seiner verschollenen Tochter suchen will. Die beiden fahren in einer klapprigen Rostlaube durch ein verwüstetes Land, wo das Leben aus Not und Verzweiflung besteht. Sie finden die kleine Natia, traumatisiert und verstummt. Und Saba kommt seinem flüchtenden Vater so nahe wie nie zuvor. Doch der Preis, den er dafür bezahlt, ist zu hoch.

Geschichte und Schicksal

Leo Vardiashivili mischt magischen Realismus mit Schweijkesken Abenteuern, erschütternden Alltagsszenen und märchenhaften Momenten. Er zitiert Shakespeare, Grimms Märchen und das Dschungelbuch und gibt tiefe Einblicke in die Geschichte Georgiens – das Land zwischen allen Fronten. Sein auch stilistisch überwältigender Roman ist mehr als eine Spurensuche, mehr auch als eine Familiengeschichte, es ist eine ebenso böse wie sarkastische Abrechnung mit dem Schicksal und der Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz.

Hineingelesen…

… in die Geschichte Georgiens

„Das ist unsere Geschichte, Sabo. Ein Mann ohne Geschichte ist wie ein Baum ohne Wurzeln.“

Tbilissi liegt zufällig genau auf dem direktesten Weg von Asien nach Europa. Eine strategische Schlüsselposition für viele psychopathische Herrscher. Das Osmanische Reich, das Byzantinische Reich, das Russische Reich – sie alle haben sich ihre Wege durch Georgien gebahnt.
Tbilissi wurde so oft erobert, dass das georgische Volk eine Standardstrategie entwickelt. Immer wenn die Stadt bedroht war, flohen die Bewohner in die Berge. Jeder elende Exodus war eine Arche Noah dessen, was es bedeutete, Georgier zu sein. Komfort, Verpflegung und Leben wurden geopfert, um zu retten, was sich nicht ersetzen ließ – Dinge, die man bewahren musste, egal um welchen Preis. Unser Geschichte.

„Kannst du dich erinnern an den Preis, den wir zahlen mussten?“
„Ja, Ansor.“
„Sag mir, was für eien Preis ein Georgier zahlen muss.“
„Jede Familie muss einen kampffähigen Mann zurücklassen,“ sagte ich brav.
Jede fliehende Familie ließ einen Mann zurück. Ihre Aufgabe war einfach – ihren Familien Zeit zu kaufen mit ihrem Leben. Und diese Zeit gestattete es den Flüchtenden, in ausweglose Bergdörfer zu fliehen. In gewisser Weise trugen die Flüchtende die schwerere Last. Ihre Aufgabe war es, die Dinge zu verstecken und zu bewahren, die unersetzlich waren.
„Was passiert, wenn der Feind uns in den Bergen findet?“
„Wenn die letzten Bastionen fallen und alles andere scheitert, dann werden die im Herzen Furchtlosen ihre letzte Pflicht zu, wie sie geschworen haben“, sage ich brav.
„Und worin besteht diese letzte Pflicht, die sie geschworen haben?“
„Die Lebensmittellager in Brand zu stecken. Die Menschen aus dem Dorf in den Bergen verteilen. Wer nicht laufen kann, wird von seiner Familie getötet, damit der Feind ihn nicht besudeln kann.“
„Und warum tun wir das?“
„Weil der Feind hier keinen Trost finden soll, keine Erleichterung vor der Kälte und kein Brückchen zu essen. Wir machen ihnen Georgien zu Hölle.“

Jede Generation von Flüchtlingen zog eine Armee auf und schickte sie in sture blutige Rebellion. Egal, wie hoch der Preis war, egal, wie viele Revolten niedergeschlagen wurden, die Invasoren wurden am Ende immer verjagt. Die Flüchtenden kamen zurück, baut Tbilissi wieder auf und lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Bis zur nächsten Invasion.
Durch diese Wunder vergossenen Blutes und der Vertrautheit mit dem Tod steht Tbilissi heute noch. Die Mutter schaut von ihrem Hügel in ständiger Erwartung des nächsten Feindes.

Info  Leo Vardiashvili. Vor einem grossen Walde, Claasen, 458 S., 25 Euro

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