Dorf ohne Jugend

13. April 2022

Den Debütpreis der lit.Cologne hat Sven Pfizenmaier nicht bekommen,  obwohl sein  Erstling „Draußen feiern die Leute“ ebenso aktuell wie aufsehenerregend ist. Hunderttausende Ukrainer sind derzeit auf der Flucht. Wie werden sie hier leben? In einem fremden Land mit fremder Kultur? Nicht immer gelingt die Integration. Mit Witz und Scharfsinn erzählt Sven Pfizenmaier in seinem Debüt auch von Anpassungsschwierigkeiten der Einwanderer. So wundert sich die Russlanddeutsche Valerie darüber, „dass ihre Eltern ihre frühere Welt konserviert und in diesem Haus wieder aufgebaut haben“.

Außenseiter  unter sich

Sie ist nicht allein als Außenseiterin in diesem ungewöhnlichen Dorfjugendroman, der von einer Teenager-Clique erzählt. Unangepasst sind sie alle irgendwie: Richard, der auf andere wie eine Schlaftablette wirkt. Timo mit seiner grünlichen Pflanzenhaut. Die Träumerin Valerie, die ihr halbes Leben verschläft. Schmauser, immer gut für einen Exzess. Und dann sind da noch die drei Dorfgauner Dima, Danik und Doktor Dobrin, auch sie mit Migrationshintergrund aus Kasachstan und nie so recht in Deutschland angekommen.

Rasputin und die Verschwundenen

Das Zwiebelfest bringt sie alle zusammen – im Rausch. Doch einige fehlen, sind einfach weg, verschwunden. Wie die Schwester von Jenny, Richards Freundin. Auch Jenny will weg aus dem Dorf, vielleicht ihre Schwester finden. Die Spur führt nach Hannover und dort zu einem Drogenboss mit dem bezeichnenden Namen Rasputin – eine Gestalt wie aus einem Fantasy-Film.

Reale Probleme und originelle Bilder

Nein, dies ist nicht noch ein netter Landleben-Roman. Dem 1991 in Celle geborenen Autor Sven Pfizenmaier  geht es um die höchst realen Probleme von Teenagern, um Entfremdung, Zukunftslosigkeit und Flucht in die Sucht. Dafür findet Pfizenmaier originelle Bilder und eine Sprache, die sich am Jugend-Jargon orientiert ohne sich ranzuschmeißen.

Hineingelesen…

… in die Gedankenwelt der Außenseiter

Dima, Danik und Doktor Dobrin mögen Valerie, weil die eine der wenigen Menschen im Dorf ist, die nicht schlecht über sie redet. Valerie redet nicht schlecht über sie, weil sie sich so weit es nur geht von ihnen abgrenzen möchte. Dima, Danik und Doktor Dobrin wissen das nicht. Sie finden, Valerie sei eine von ihnen. Das tun sie, weil sie kein Gefühl für Vergangenes haben. Regelmäßig stehen sie entgeistert vor Valeries abgewendetem Blick und fühlen sich verraten. Wir sind doch alles Russen, sagen sie.
Ihrer aller Familien kamen zur selben Zeit aus Kasachstan nach Deutschland. Anfang der Neunziger. Sie lernten sich in der Erstaufnahmestelle Friedland kennen und zogen kurz darauf in dasselbe niedersächsische Wohnhaus. Keine aus drei Mehrfamilienhäusern bestehende Blockhausreihe war das, die einzigen Häuser in dem Gebiet, die nicht so hübsch im urigen Rot verklinkert, sondern weiß verputzt waren. Die vier Familien therapierten sich gegenseitig in Behördenfragen, borgten Zucker und Eier voneinander, ließen die Kinder nachmittags zusammen spielen. In einem besonders freundschaftlichen Jahr, ihrem dritten oder vierten in Deutschland, machten sie alle zusammen Urlaub am Balaton.
Dima, Danik und Doktor Dobrin wurden in Kasachstan geboren, gingen dort auch noch in den Kindergarten. Sie hatten kaum Probleme damit, das Zwei-Welten-System ihrer Eltern zu übernehmen. Die sowjetische Welt, die man eigenhändig mitgebracht hat, ist das Zuhause, und die deutsche, in die man geraten ist, liegt vor der Tür. Valerie wurde zu ihrer eigenen Verwirrung erst in Deutschland geboren. Sie hatte keine andere Welt, die sie sich mitbringen konnte. Wenn man von den zwei Welten, in denen man lebt, die eine Welt abzieht, die man kennt, dann bleibt keine Welt übrig, in der man zu Hause ist. Als sie fünf Jahre alt war, hörte Valerie auf, Russisch zu sprechen. „Das ist unlogisch,“ sage ihre Mutter Evgenija, die die russische Sprache vor der Tür nur flüsterte. „Du kannst doch nicht unsere Heimat verraten.“

Info Sven Pfizenmaier. Draußen feiern die Leute, Kein & Aber, 334 S., 24 Euro

 

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