Andrej Kurkow und Kiew

3. August 2022

Andrej Kurkow ist Ukrainer, und das Schicksal der Ukraine liegt ihm am Herzen. Jetzt hat er einen historischen Kriminalroman geschrieben, der 1919 spielt, „weil die Situation damals der heutigen in der Ukraine sehr ähnelt“, wie er dem Spiegel verriet. „Samson und Nadjeschda“ ist keine Liebesgeschichte, eigentlich auch kein Krimi und auch kein historischer Roman, eher alles zusammen und eine Art Schelmenroman dazu.

Zufallsopfer der Umbruchszeit

Denn dieser Samson, ein studierter Maschinenbauer, wird durch einen unglücklichen Zufall zu einem erfolgreichen Ermittler in der Miliz. Rotarmisten haben auf offener Straße seinen Vater erschlagen und ihm das rechte Ohr abgetrennt. Die beiden gutbürgerlichen Männer sind Zufallsopfer einer brutalen Umbruchszeit. Die russische Revolution hat Horden von Banditen nach Kiew gespült, die der Stadt und den Bewohnern zusetzen.

Das talentierte Ohr

Doch Samson hat Glück, auch wenn der Augenarzt das Ohr nicht mehr annähen kann. Das in einer Dose aufbewahrte Organ rettet ihm das Leben und wird zum Schlüssel seiner Karriere. Denn wundersamerweise hat das Ohr das Talent eines Abhörgeräts: Es hört mit. Schräge Dialoge, wirre Konversationen aber auch das, was die bei Samson einquartierten Rotarmisten planen, die so eifrig große Säcke in Samsons Wohnung schleppen.

Ein Schneider als Opfer

Irgendwie geht es dann auch um Mord. Opfer ist ein deutscher Schneider. Und bei der Aufklärung kommen auch noch ein an Knochentuberkulose erkrankter Belgier und ein silberner Knochen ins Spiel. Wie gut, dass Samson das Ohr am rechten Ort hat.

Samson und Nadjeschda

Mittlerweile hat der schüchterne Samson die resolute Nadjeschda kennengelernt – durch die erfolgreiche Kuppelei der Hausmeisterswitwe in seinem Haus. Es entspinnt sich mehr oder weniger eine Liebesgeschichte, die der Fortsetzung bedarf. Das findet auch der Autor, der eine Trilogie mit dem ungleichen Paar plant.

Skurriler Humor

Andrej Kurkow erzählt lakonisch und mit dem skurrilem Humor eines Gogol vom Alltag der Menschen, die in einer Zeit der Unordnung und der Machtkämpfe ihr Überleben organisieren. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht mit Samson und Nadjeschda.

Hineingelesen…

… in Samsons Date mit Nadjeschda

Ein Klopfen an der Wohnungstür lenkte die Witwe ab, sie wurde ganz leichtflüssig und flatterte direkt vom Tisch davon. Die Tür draußen knarrte…
„Ach, Nadjenka“ Wunderbar, dass du gekommen bist. Geh schon vor.“
In der Küche kam zum Klappern von Holzschuhen auf dem Holzboden eine junge Frau von fast schon zu athletischem Äußeren herein,  hochgewachsen, mit rundem Gesicht, kräftigem Köprperbau, aber nicht zu dick, im schwarzen kurzen Schafspelz, der von Knöpfen gerade so zusammengehalten wurde und dadurch aufgequolleen wirkte, in einem strengen Rock, der über die Knie reichte. Bevor Nadjeschda sich auf den Stuhl setze, den ihr die Witwe anbot, löste sie die Knöpfe ihres Pelzes und ähnelte nun dadurch, dass unter dem sich abrupt öffnenden Pelz eine hell-bordeauxfarbene, bis zum Hals zugeknöpfte Samtbluse zum Vorschein kam, einer Blume. Sie zog den grauen Orenburger Schal vom Kopf, knöpfte auch den obersten Knopf ihre Bluse auf, erst dann setze sie sich und sah den lächelnden Samson freundlich an.
„Nadja.“ Sie strecke ihm über dem Tisch die Hand hin.
„Samson“, stellte er sich vor, spürte ihren festen Händedruck und sah ihr freundlich und ein wenig kläglich in die grünen Augen…
… „Ich ertrage all das Unglück, das über uns hereingebrochen ist“, begann er zu antworten und fing sofort noch einen durchdringenden Blick der Witwe auf. „Sie haben meinen Vater umgebracht, und mich hat es auch erwischt.“
„Banditen?“ fragte Nadja.
„Kosaken auf Pferden… auf offener Straße! Haben mit ihren Säbeln grundlos gemetzelt““
„Schlecht sieht es bei uns mit der Ordnung aus“, stimmte die Witwe zu.
Nadja nickte. „Ja, das kommt von der vorigen Anarchie, das Volk ist verroht… Wenn die Macht sich erst festigt und ihre Zähne zeigt, wird es das nicht mehr geben. Und was sind Sie von Beruf, Samson?“
„Ich habe auf der Universität Eelektromaschinenbau studiert. Und Sie, Nadjeschda?“
„Pharmazie, aber jetzt stelle ich im Gouvernementsbüro Statistik zusammen.“
„Ist das interessant?“
„Die Arbeit muss nicht interessant sein.“ Nadjas Stimme wurde plötzlich kühl. „Die Arbeit muss wichtig und nützlich für die Gesellschaft sein.“
„Mir gefällt Ihre Entschiedenheit“, erkühnte Samson sich zu einem Kompliment und fing sofort einen beifälligen Blick der Witwe auf.
Nadjeschda war, schien es, errötet. Sie fasste sich mit der Hand an ihr kurz geschnittenes kastanienbraunes Haar, dessen Rand etwa ein Zentimeter bis zu den dichten Brauen blieb.
„Ich versuche ein Beispiel des künftigen Menschen zu geben“, sagte sie weich. „Der künftige Mensch soll entschieden, fleißig und gutherzig sein. Meine Eltern sehen das auch so, auch wenn sie aus dem vergangenen Leben stammen.“

Info Andrej Kurkow. Samson und Nadjeschda, Diogenes, 364 S., 24 Euro

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