Das Tor zum Bewusstsein
Rezensionen / 13. September 2018

„Also: Der Thalamus ist eine Art Schaltzentrale. Zum Beispiel leitet er das, was das Auge sieht, zur Großhirnrinde weiter. Aber er filtert es auch, er checkt ab, welche Eindrücke gerade wichtig sind, und die werden dann bis ins Bewusstsein vorgelassen. So ungefähr funktioniert das auch mit Hören, Schmecken, Fühlen – bloß beim Riechen mischt er sich nicht groß ein.“ So erklärt der Hirnchirurg Prof. Kleist den Teil des Zwischenhirns. Wer steuert wen? Thalamus ist auch der Titel des neuen Thrillers von Ursula Poznanski – und wie gewohnt wagt sich die Autorin an ein ebenso aktuelles wie sensibles Thema. Diesmal ist es die Hirnforschung. Der Thalamus gilt als das Tor zum Bewusstsein. Wer darauf Einfluss nimmt, könnte den Menschen steuern. Protagonist ist der 17-jährige Timo, der bei einem Mopedunfall schwer verletzt wurde. Operiert hat ihn der renommierte Professor Kleist, der ihm auch den Aufenthalt in einer Reha-Einrichtung empfohlen hat. Was Timo da erlebt, gehört (noch) ins Reich der Utopie oder auch der Dystopie, je nachdem, wie wichtig man die menschliche Autonomie nimmt. Ein unerwarteter Mitstreiter Jedenfalls trifft Timo in der idyllisch gelegenen Anlage auf einige Jugendliche in seinem Alter, die ebenfalls am Gehirn operiert wurden. Ob sie ähnliche Symptome haben wie…

Abenteuer Amnesie
Rezensionen / 25. August 2018

Wie ist es wohl, wenn das Kurzzeitgedächtnis ausfällt, wenn das Gehirn nur mehr alte Erinnerungen konserviert? Neurowissenschaftler untersuchen solche Fälle. Und Elihu Hoopes ist so ein Fall. Ein Mann im besten Alter (37), charmant, weltgewandt, intelligent. Nur: Hoopes hat durch einen Unfall eine Gehirnschädigung erlitten, er kann sich an nichts erinnern, was länger als 70 Sekunden zurückliegt. Die junge Neurowissenschaftlerin Margot Sharpe ist von ihrem Mentor, dem allseits anerkannten Prof. Milton Ferris mit dem Fall E.H. betraut worden. Eine Gefühl von Liebe Und die eher unscheinbare und schüchterne Frau, die Ferris auch zu seiner Geliebten gemacht und später wieder entsorgt hatte, wirft sich mit Elan auf den Fall. Zumal sie das Gefühl hat, dass E.H. positiv auf sie reagiert: „Körperliche Schädigung ist der große Gleichmacher, denkt sie. Vor anderthalb Jahren, vor seine Erkrankung, hätte Elihu Hoopes bei ihr wohl kaum zweimal hingesehen. Fast möchte sie ihn beschützen, ihn bedauern, und spürt, dass er dankbar für ihre Berührung wäre.“ Margot, durch den eigenen Ehrgeiz vereinsamt, entwickelt nicht nur einen Beschützerinstinkt für den charismatischen Kranken, sie verliebt sich in den Mann, der ihr so ganz ausgeliefert ist. Und ja, sie hat Sex mit Eli, leidenschaftlichen Sex – den dieser nach 70 Sekunden…

Vom Häuten der Zeit
Rezensionen / 25. August 2018

Siebzig Jahre alt musste Bodo Kirchhoff werden, um sich literarisch mit dem Trauma der eigenen Kindheit auseinander zu setzen. Angeklungen ist die sexuelle Verführung des Kindes Bodo schon früher, doch erst im „Roman der frühen Jahre“ stellt er sich unter dem Titel „Dämmer und Aufruhr“ dem eigenen Lebensdrama. Und dabei spielt nicht nur der Missbrauch durch den Kantor im Internat am Bodensee eine zentrale Rolle, noch wichtiger für die Sexualisierung des Buben ist die junge (und schöne) Mutter. „Bilder von sprachloser Wahrheit“ Wie Kirchhoff die frühe Mutter-Sohn-Beziehung rückblickend beschreibt („Der Infant stillt seine Mutter“) ist einerseits irritierend, weil es den Leser ungewollt zum Voyeur macht, andererseits zeugt es von der literarischen Qualität dieses Erinnerungsbuches. So gibt es, wie Kirchhoff schreibt, „nur verwischte Erinnerungen, Bilder von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zum Wahrscheinlichen bilden. Ja, wahrscheinlich ist es so gewesen, alle Bilder sprechen dafür.“ Der Mittagsgalan und die Mutter Und die Bilder erzählen davon, dass der kleine Bodo für die Mutter, die Schauspielerin war und später Autorin von Liebesromanen wurde, weniger Kind als männlicher Begleiter war, „Sommerkavalier“. Und in den „Mittagsdämmerstunden“ des Urlaubs ohne den Vater kommt es zu Intimitäten, wobei sich der kleine „Mittagsgalan“ eines Bleistifts bedient,…

Das Gedächtnis der Natur
Rezensionen / 25. August 2018

Überwältigende Natur kennt der Mensch von heute nur mehr, wenn er hinausgeht aus den Dörfern und Städten, hinauf auf die Berge, hinein in den Wald, wenn er dem Flusslauf folgt oder einem Pilgerweg. Doch das Erlebnis der Natur ist für viele Zivilisationsgeschädigte heilsam. Der Bildband „Mystische Orte in Südtirol“ lädt dazu ein, die Natur in ihrer Ursprünglichkeit neu zu entdecken und an Kultstätten, auf Pilgerpfaden oder auf einem Berg die eigene Mitte wieder zu finden. Mystische Nebel, geheimnisvolles Dunkel Der Fotograf Martin Ruepp hat dazu Kult- und Kraftplätze in Südtirol porträtiert, oft in mystische Nebel oder geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Die Musiktherapeutin Astrid Amico, die sich schon seit vielen Jahren mit Meditation befasst, beschreibt in ihren Texten solche Orte, berichtet von den Hintergründen, erzählt alte Sagen, schreibt über das Gedächtnis der Natur und die wieder entdeckte „Kunst der Geomantie“, die sich mit den Kräften der Erde befasst. Zitate von Rilke bis Blake Es ist schon ziemlich viel Esoterik im Spiel, etwa, wenn die Autorin davon erzählt, wie sie auf die Antwort eines Steins wartet. Aber immer wieder verlocken die geheimnisvollen Aufnahmen dazu, sich doch in die Texte zu vertiefen oder sich Gedanken zu machen über die Zitate von Rilke bis Proust,…

Das Geheimnis von Hyde
Rezensionen / 25. August 2018

Antje Wagner ist eine versierte Autorin, bekannt für ihre eher mystischen aber auch literarisch anspruchsvollen Jugendbücher. Mit ihrem neuen Roman „Hyde“, den sie als Zwitter zwischen Jugend- und Erwachsenenbuch konzipiert hat, mutet sie den Lesern ziemlich viel Gedankenarbeit zu. Denn auch nachdem man den letzten Satz gelesen hat, bleibt eine Unsicherheit zurück, wie das Ende wohl zu interpretieren ist. Ein Traum? Ein Happy End? Ein rätselhaftes Mädchen Geheimnisvoll wie die ganze Geschichte bleibt auch Katrina, das Mädchen, das hier seine Geschichte erzählt. Die 18-Jährige hat eine Ausbildung zur Tischlerin abgeschlossen und ist auf der Walz. Wie sie aussieht, erfährt man nicht. Nur, dass sie ständig ein Tuch im Gesicht trägt und dass Menschen, die sie ohne dieses Tuch sehen, entsetzt sind. Und früh spürt man, dass Katrina Schlimmes erlebt hat. Was das war, das lässt Antje Wagner die Leser erst nur ahnen. Man liest, dass Katrina einmal glücklich war. Damals als sie mit Papa und ihrer Schwester Zoe in Hyde lebte, dem Haus im Wald. Dem Haus, das zwei Gesichter hatte wie Stevensons Klassiker „Dr Jekyll und Mr. Hyde“. Auch über diese zwei Gesichter erfahren die Leser nur ganz allmählich Näheres. Ein altes Haus und neues Leben Was man weiß…

Flucht ins Ungewisse
Rezensionen / 10. August 2018

Es ist Anne Tylers 22. Roman und auch in „Launen der Zeit“ spricht die mittlerweile 76-jährige Chronistin des amerikanischen Mittelstands aus jeder Zeile. Wieder einmal geht es um schwierige Familienverhältnisse und die Flucht daraus. Schuldgefühle seit der Kindheit Das Leben der Hauptfigur Willa Drake erzählt Tyler in vier Episoden, die sie zwischen 1967 – da ist Willa elf – und 2017 ansiedelt. Willa ist nett und unauffällig, hilfsbereit und voller Schuldgefühle. Die hat sie seit ihrer Kindheit, die geprägt war durch die häufige Abwesenheit der Mutter und die Unzulänglichkeit des allzu sanftmütigen Vaters. Ein alltägliches Leben Derek, der Ehemann ist ganz anders, ein Machotyp, der Willa dominiert. Sie bricht ihr Studium ab, zieht nach Kalifornien und wird Mutter zweier Söhne. Ein ganz und gar alltägliches Leben, bis Derek durch einen Unfall aus dem Leben gerissen wird und Willa mit einem neuen Schuldkomplex zurücklässt. Auch dem zweiten Ehemann, Peter, fällt es leicht, diese von Selbstzweifeln geplagte Frau zu dominieren. In einer Golfsiedlung in Tuscon Arizona wird der Lebensabend geplant, auch wenn Willa nicht golfen kann, weil sie einfach unsportlich ist. Flucht aus dem Golf-Getto Doch dann tut sich per Zufall ein Hintertürchen auf, das dieser unterschätzten Hausfrau die Flucht aus dem…

Frauenschicksal in Saudi Arabien
Rezensionen / 10. August 2018

Dass Frauen an Steuer dürfen, ist wohl nur in Saudi-Arabien eine Schlagzeile wert. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman weckt mit seinen Plänen für eine offenere Gesellschaft Hoffnungen auf Tauwetter in dem erzkonservativen Land. Kholoud Bariedah, die 2012 ihrem Heimatland den Rücken kehrte, heute in Berlin lebt und sich vom Islam abwandte, hat die rigiden Disziplinierungsmethoden des Regimes am eigenen Leib erfahren. In ihrem Buch „Keine Tränen für Allah“ schildert sie, „wie ich von Tugendwächtern verurteilt wurde und dem Frauengefängnis von Mekka entkam“. Wenn Tugendwächter eine Party stürmen Es ist ein ehrlicher, wenn auch manchmal etwas larmoyanter Bericht aus einem Land, in dem Frauen rechtlos sind und Tugendwächter das Leben bestimmen. Als Kholoud die ganze Härte des Regimes zu spüren bekommt, ist sie gerade mal 20 Jahre alt und feiert mit Freunden eine Party, die von Tugendwächtern gestürmt wird. Wie ihre Freunde landet Kholoud hinter Gittern, einer Besserungsanstalt für gefallene Mädchen. Vier Jahre Haft und 2000 Stockschläge Sie wird verurteilt: Zu vier Jahren Haft und 2000 Stockschlägen. Für etwas, was in anderen Ländern für junge Leute selbstverständlich ist, fröhlich sein, tanzen, feiern landet sie zunächst in Einzelhaft, darf weder Vater noch Mutter sehen und zerbricht fast daran: „Jeden Tag stellte…

Gratwanderung zwischen den Welten
Rezensionen / 16. Juli 2018

Die Helden sind meist gewöhnlich, doch das, was um sie herum geschieht, ist außergewöhnlich. Das gilt auch für Haruki Murakamis „Die Ermordung des Commendatore“, vom Verlag in zwei Teilen herausgegeben. Nach „Eine Idee erscheint“ heißt es im zweiten Teil „Eine Metapher wandelt sich“ – und dieser zweite Teil fordert den Lesern noch mehr Bereitschaft ab, dem Dichter in eine Welt zu folgen, in der sich Realität und Fantasie mischen. Wären sie nicht vom ersten Teil her schon gut vorbereitet darauf, dass sich Fantasiewesen materialisieren, dass die Realität auch der Magie Platz lässt, der zweite Teil würde sie überfordern. Abenteuer zwischen Traum und Wirklichkeit   Doch Murakami hat den Boden sorgfältig bereitet: Der Commendatore, entwichen aus dem Gemälde zur Mozart-Oper „Don Giovanni“, diskutiert ganz real mit dem neuen Hausbewohner. Ein Freund, Sohn eines bekannten Malers, hatte dem in einer Ehekrise steckenden Berufsporträtisten das Haus seines Vaters als Zuflucht angeboten. Eben da findet der 36-jährige Gast das versteckte Gemälde „Die Ermordung des Commendatore“, und er lernt einen Milliarden schweren und rätselhaften Nachbarn kennen, den Steigbügelhalter zu all den kommenden Abenteuern zwischen Traum und Wirklichkeit. Man spürt schon den Einfluss Kafkas in den rätselhaften Passagen, die zwischen den Welten changieren. Die Philosophie der Dona…

Leben in der Geschichte
Rezensionen / 16. Juli 2018

Eine jüdische Familie in New York. Die alt gewordene Bella erinnert sich an ihre Jugend in Berlin – und an die Rettung ihrer Familie durch einen ägyptischen Arzt. Sie hat die Geschichte schon viele Male erzählt, doch kaum jemand aus ihrer zahlreichen Nachkommenschaft interessiert sich mehr dafür. Die Jungen haben andere Probleme: Der schwarze Schwiegersohn Nigel, Sohn eines Afroamerikaners und einer Deutschen, deren Vater ein hohes Tier bei den Nazis war, weiß, dass seine Frau Louise ihn betrügt. Die kleine Tochter Chelsey hat das Down-Syndrom und ist doch der Liebling aller. Die zweite Tochter Grace hat in einen irischen Clan eingeheiratet, zu dem Bella nur schwer Zugang findet. Dabei gäbe es doch die ganze Großfamilie nicht, wenn „es damals in Berlin Dr. Fareed nicht gegeben hätte“. Die Last der Vergangenheit An Bellas Geburtstag wird dieser Satz gebetsmühlenartig wiederholt – mit mehr oder weniger Überzeugung. „Ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufbrächte, meine Erinnerungen ein für alle Mal irgendwo zu verschließen,“ sagt die alte Frau zu einem der Iren. „Euch gegenüber wäre es eigentlich nur fair und richtig. Ihr tragt die Last der Vergangenheit mit. Ich gehe euch damit auf die Nerven.“ Jürgen Seidel erzählt die auf einem wahren Schicksal…

Morgen Augsburg!
Rezensionen / 16. Juli 2018

Er galt als Nestbeschmutzer, als schwieriger Zeitgenosse: Thomas Bernhard machte es seinen Feinden leicht, ihn zu hassen. Denn der in Holland geborene und in Österreich aufgewachsene Dichter liebte es zu polemisieren. Kaum ein Land, kaum eine Stadt fand Gnade vor seinen kritischen Augen. Sie waren für ihn allesamt hässlich, ob Rom oder Stockholm, Passau oder Salzburg, Freiburg oder Linz, Paris oder Wien: Brutstätten des Kleinbürgertums, Horte der Dummheit und Ignoranz, widerwärtige Provinznester. Die Lechkloake ist in bester Gesellschaft  Augsburg, das sich in dem Stück „Die Macht der Gewohnheit“ als „Lechkloake“ verunglimpft sah, ist in bester Gesellschaft. Denn für Bernhard, den österreichischen Nationaldichter, ist ganz Österreich eine Kloake. Und der Schlachtruf „Morgen Augsburg“ findet seine Steigerung in „Nie wieder Trier“. Gut drei Stunden lang kann man sich die „Städtebeschimpfungen“ des großen Grantlers anhören. Gelesen von Peter Simonischek und Michael König, ist das ein ganz besonderes Reise-Erlebnis. Die Hasstiraden treffen fast alle Städte Denn so manche Städteschönheit wird bei Bernhard zur Brutstätte von „Menschengerümpel“, hässlich und öde. Gelten lässt er gerade noch Kopenhagen. Auch Hamburg mag er und Lissabon. Dafür hasst er die Schweiz, überhaupt die ganze Natur, langweilt sich am Genfer See und findet Bad Gastein tödlich. Es sind bitterböse Tiraden,…